Auf Gott vertrauen und ihn zur Umkehr bewegen

Predigt zu Jes 63 - 64 in Auszügen am 2. Advent 2021 von Pfr. Stefan Reichenbacher

 

Liebe Gemeinde!

Advent ist in der dunklen Jahreszeit. Wir sehnen uns nach Licht. Aber es ist wichtig, dass wir die Dunkelheit aushalten und die Lichtmenge sich nur langsam steigert - von der ersten Kerze am Adventskranz bis zu allen vieren. So wird die Sehnsucht nach Licht immer größer - und erst an Weihnachten wird diese Sehnsucht dann schließlich erfüllt.

Dieses Dunkle und die Sehnsucht nach Licht bildet menschliche Befindlichkeiten und menschliche Erfah­rung ab: Wir kennen und erleben Dunkelheiten immer wieder. Wir haben aber auch Hoffnungen, manchmal nur ganz klein und schwach - und dann wieder werden uns helle und freundliche Tage im Übermaß gegönnt.

Unser Predigttext heute spielt in einer Zeit, in der das Volk Israel Dunkelheit im Übermaß erlebt - nämlich in der Verbannung in Babylon.

Versetzen wir uns in eine kleine Hütte irgendwo vor den Toren der Weltstadt Babylon.
Es ist nicht sehr hell in dieser kleinen Hütte. Eine Öl­lampe erleuchtet den Raum nur dürftig. Gerade eben noch kann man die Gesichter der Menschen darin erkennen. Dicht an dicht sitzen sie gedrängt. Aus­gemergelte Gesichter, verrissene Kleider, aber die Augen leuchten. Sie warten auf einen, der ihnen Hoffnung gibt. Und da kommt er. Wie er richtig heißt, wissen sie gar nicht. Jesaja nennen sie ihn - einfach, weil er ihnen immer wieder Worte vom alten Pro­pheten Jesaja vorliest. Und diese Worte helfen ihnen. Denn mit ihnen erinnern sie sich an ihren Gott, an den Gott Israels, der im Tempel in Jerusalem wohnte.
Sie hören strenge Worte des Propheten, mit denen er sie tadelt und den Zorn Gottes über die Sünden ihrer Väter geißelt. Und sie beginnen zu akzeptieren, dass die Verbannung die gerechte Strafe dafür ist.
Zugleich aber sie hören auch Trostworte, Worte, mit denen der Prophet sie daran erinnert, wie Gott sein Volk vor langer, langer Zeit befreit hat - damals, aus der Gefangenschaft in Ägypten. Sie erinnern sich an den Gott, der sein Volk durchs Meer hat ziehen lassen, in dem dessen Verfolger jämmerlich ertrunken sind.
Auch damals, so überlegen sie, war das Volk Israel in der Fremde gewesen. Doch damals hatte Gott sein Volk erhört und machtvoll geholfen und Mose hatte die Israeliten im Namen Gottes in die Freiheit geführt! Würde Gott das mit ihnen auch irgendwann einmal tun?

Welche Worte würden sie heute hören vom Propheten? Tadel oder Trost? Zorn Gottes oder Barmherzigkeit?

Der Mann setzt sich. Er schaut in die Runde und alle werden still und warten gespannt. Da schließt er die Augen und öffnet die Hände nach oben, wiegt den Oberkörper leicht hin und her und beginnt leise zu beten.
Und heute sind es seine eigenen Worte, die er spricht. Prophetische Worte. Und obwohl er nur leise spricht, erfüllen sie den ganzen Raum und lassen ihre Herzen erbeben:

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!

Ja, genau, Gott, denken auch die anderen in der Hütte, mach doch mal! Hast du uns denn völlig vergessen hier? Schau doch, wie dreckig es uns hier geht. Wir sind unfrei, wir müssen tun, was die Babylonier uns befehlen, wir haben schon fast die Hoffnung verloren, je wieder nach Hause zurück­zu­kehren.

Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?

Du bist doch der Gott, auf den wir uns ver­lassen sollen – nun zeig doch deine Macht und deine Hilfe für dein Volk!

Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Warum tust du das, Gott, warum unterdrückst du deine Barmherzigkeit? Hilf uns doch endlich!

Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. 
„Unser Erlöser“, das ist von alters her dein Name!

Ja, Gott, du bist unser wirklicher Vater. Unsere Stammväter Abraham und Jakob Israel sind schon lange tot, aber du lebst! Nur du kannst uns befreien und erlösen!

Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?

Du kannst doch unser Denken und Tun bestimmen - warum also hast du uns so viel Unrecht tun lassen, dass wir von dir mit dieser Verbannung gestraft wer­den mussten? Das hättest du doch verhindern können!?

Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!

Ja, nicht nur wir müssen umkehren, auch du musst umkehren! Auch du bist auf einem falschen Weg und hast dich von uns entfernt - von deinem Volk. Du musst doch erkennen, dass du unser Vater bist und wir sind deine Kinder!

Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.

Das kannst du doch nicht wollen, Gott. Du bist doch unser Gott - und wir sind dein Volk und wir beten dich an! Wir gehören nicht zu den Heiden, die deinen Namen nicht kennen und andere Götter anbeten.

Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht. Dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten und das man von alters her nicht vernommen hat.

Ach ja, das wäre schön! Wenn du endlich kämst, wenn wir deine Anwesenheit in deinen furchterregenden Taten spüren könnten. Und auch alle anderen Völker erkennen, wie mächtig unser Gott ist!

Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Ja, wir werden weiter ausharren und hoffen, dass du umkehrst und zu uns herabkommst, dass du uns befreist und dass wir wieder ein neues und besseres Leben in der Heimat anfangen können. Denn es gibt keinen anderen Gott außer dir!

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So denken die Menschen vermutlich damals in Babylon, als der neue Prophet Jesaja sein flehentliches und zugleich macht­volles Gebet spricht – voll Vertrauen zu dem Gott, der scheinbar so fern ist und zugleich so nah sein kann.

   

Liebe Gemeinde!
Wir leben heute - Gott sei Dank - nicht in Sklaverei und Verbannung. Doch die Fragen an Gott, die Dun­kel­heiten im Leben, das scheinbare Fernsein Gottes kennen auch wir.

Manche meinen, die Corona-Pandemie wäre ein Zeichen für die Strafe Gottes und ein Beweis seiner Ferne. Ich glaube das nicht. Sondern ich glaube, dass gerade diese Krise eine Zeit ist, in der wir ganz besonders die Nähe Gottes spüren können, wenn wir uns auf ihn einlassen.

Auch der Wunsch, dass Gott doch endlich einmal klar Schiff machen möge mit allen Feinden und allem Bösen in der Welt und die Guten und Frommen be­lohnen, schützen und unterstützen soll, ist geblieben.
Dieser Wunsch ist nachvollziehbar. Aber müssen wir nicht manchmal auch froh sein, dass Gott eben nicht jede Sünde sofort bestraft? Könnten wir sicher sein, dass sein Zorn nicht auch uns selbst treffen würde?

Ebenso ist die Sehnsucht der Menschen nach Glau­ben geblieben, nach Glauben und Vertrauen zu Gott, der ihnen aber nicht so einfach möglich ist. Denn die Lebens­erfahrung und die Lebenswirklichkeit stehen dagegen. In der Fremde, in der Verbannung ist es schwer, am alten Glauben festzuhalten. Der Tempel, das Haus Gottes ist so weit weg… Ist Gott überhaupt hier in Babylon für uns ansprechbar, überlegen die Verbannten. Oder haben dort nur die Götter der Babylonier etwas zu sagen und zu bestimmen?
Auch diese Frage kennen wir. Bei uns lautet sie: Ist der Gott, der in den christlichen Kirchen verkündet wird, überhaupt noch zeitgemäß, passt er für den modernen Menschen, passt er zu mir? Oder stricke ich mir nicht lieber meinen eigenen persönlichen privaten Gott, der dann so funktioniert wie es mir am praktischsten erscheint?

Schauen wir das Gespräch noch einmal genauer an:

Dieser Prophet damals in Babylon geht gerade mit dieser Not und der Gottesferne in bemerkens­werter Weise um: Er fordert Gott auf, aufzuwachen, selbst umzukehren, herunterzukommen vom Himmel und endlich wieder Kontakt mit seinem Volk aufzunehmen.
Gott wird also nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wie das heutzutage manchmal geschieht, sondern seine Existenz und seine Handlungsfähigkeit werden selbst­verständlich vorausgesetzt. Und so bleibt dieser neue Jesaja und bleibt das Volk Gottes ganz intensiv in Beziehung mit diesem Gott, der einst einen Bund mit seinem Volk geschlossen hat.
Der Prophet erinnert Gott an seinen Bund, er erinnert ihn an seine Macht und er packt ihn an seiner eigenen Ehre, die doch darin besteht, dass sein Volk ihm treu ist und allein auf ihn vertraut und an ihn glaubt.

Ich meine, dass wir dieses Vorgehen, dieses schein­bar fast freche Umgehen mit Gott uns zum Vorbild nehmen dürfen, denn es ist voller Glaubenszuversicht.
Wir dürfen Gott z.B. an unsere Taufe erinnern. Wir dürfen sagen: Gott, ich bin getauft und damals hast du versprochen, immer bei mir zu sein. Also komm, zeig dich mir und zeig mir einen Weg, wie es weitergehen soll in meinem Leben, jetzt, wenn es mir dreckig geht.
Die Dunkelheiten des Lebens werden dadurch nicht sofort automatisch heller, wenn wir so mit Gott und zu Gott reden. Aber wir nehmen Gott dann als Ansprech­partner für unsere Nöte ernst. Und wir nehmen ihn zum Gegenüber, dem wir uns anvertrauen und von dem wir erwarten, dass er helfen kann. Und das, liebe Ge­meinde, ist Glaube. Gott zutrauen, dass er in meinem Leben für Licht und Wärme sorgen kann und dass er das auch tun wird.

Wie aber ging es nun weiter, damals mit dem Volk Israel in Babylon? Ungefähr 40 Jahre - ein in der Bibel typischer Zeitraum der Reinigung und der Buße - mussten vergehen, bis Gott das Schicksal seines Volkes wendet. Die Babylonier werden von den Per­sern überrollt und werden die neuen Machthaber in Babylon. Der persische König Kyros nun hat kein Interesse an diesem kleinen fremden Volk vor den Toren Babylons und lässt sie in die Heimat zurück­kehren. Dort ist das Leben zwar in den kommenden Jahrzehnten nicht gerade rosig, aber so langsam finden das heim­gekehrte Volk und das dort übrig ge­bliebene wieder zusammen und sie bilden eine neue Gemeinschaft, auch im Glauben an diesen einen Gott, der sein Volk Israel nicht vergessen hat.

Hieraus können wir einmal mehr lernen, dass Gott nicht so rettet, wie wir es uns manchmal wünschen oder gar ersehnen. Gott hat nicht die Pforten des Himmels geöffnet und die Babylonier in sintflutartigem Regen ertränkt. Er hat auch kein großes Erdbeben oder Feuer kommen lassen, um sein Volk zu retten.
Heute, in einer Zeit, in der wir sehr viel mehr wissen vom Weltgeschehen fernab von uns selbst als die Menschen damals vor 2500 Jahren, sind wir denn auch sehr viel vorsichtiger geworden mit solchen Wün­schen. Der furchtbare Gott, der sich scheinbar in Ka­tas­trophen zeigt und damit seine Allmacht beweist, ist uns suspekt geworden. Wir verehren lieber den sanf­ten, den mitleidenden Gott, der in solchen Katastro­phen auf der Seite der Leidenden steht. Wir glauben, dass Gott solche Katastrophen nicht will, dass sie aber zum Leben auf diesem Planeten dazugehören. Wir sehen, was Schlimmes passiert und wir können nur ahnen, wie viel noch Schrecklicheres Gott jeden Tag verhindert, was aber passieren könnte…

Und so liegt es in der Logik der Barmherzigkeit Gottes, dass auch sein reales Kommen in diese unsere Welt nicht so ablief, wie es Jesaja sich seinerzeit vorstellte. Nicht in Macht und Gewalt, sondern in Un­schein­bar­keit, Armut und Verletzlichkeit kommt Gott zur Welt. Das Kind in der Krippe ist das genaue Gegenteil einer Natur­katastrophe. Was es jedoch bewirkt, was aus diesem Kind wird und was es einmal für die bedeutet, die an diesen Gottessohn glauben, hat größere und weit­reichen­dere Folgen als jede Naturkatastrophe.
Denn wenn auch der Schöpfergott, der „Vater“, wie er in unserem Predigttext genannt wird, fern und ab­wesend scheinen kann - auch in unserer Zeit - so bleibt der Sohn Gottes in der Krippe immer nah und immer an-greifbar.

Und so möchte ich mit einer Weisheit Martin Luthers schließen, die wir im Gesangbuch unter der Nummer 36 finden:
„Wir fassen keinen andern Gott als den,
der in jenem Menschen ist,
der vom Himmel kam.
Ich fange bei der Krippe an.

Amen.