Das Verlorene vermissen und suchen, finden und sich freuen

Predigt zu Lk 15,1-10 von Pfarrer Stefan Reichenbacher

 

Liebe Gemeinde!

Der Predigttext besteht aus zwei Gleichnissen Jesu, die beide dasselbe Thema haben: Das Verlorene vermissen und suchen, finden und sich freuen!

Im Gleichnis verwendet Jesus einmal ein Verlorenes Schaf und zum anderen einen verlorenen Groschen als Beispiel, um seinen Hörerinnen und Hörern zu erklären, wie Gott sich gegenüber dem Menschen verhält.

Lesen Sie bitte Lukas 15,1-10

Das Gleichnis vom Verlorenen Schaf ist sehr bekannt – aus dem Kindergottesdienst, aus der Schule, es ist im Lehrplan der 1. Grundschulklasse enthalten…

Weniger bekannt ist wahrscheinlich das Gleichnis vom Verlorenen Groschen, den die gewissenhafte Hausfrau lange suchen muss.

Wenn man sie so direkt hintereinander stellt, kann einem auffallen, dass im ersten Gleichnis ein Mann im Vordergrund steht – der Hirte – und im zweiten eine Frau – die Hausfrau.

Der Evangelist Lukas ist unter Evangelisten bekannt als der große Frauenfreund. Immerhin ein Drittel aller namentlich genannten Jünger und Jüngerinnen Jesu sind Frauen bei Lukas. Aber natürlich hätte Lukas diese beiden Gleichnisse nicht so hintereinander erzählen können, wenn er sie nicht von Jesus überliefert bekommen hätte.

Jesus ist ein Meister darin, den Menschen seine Botschaft in ihrer Welt zu erzählen – und deshalb gibt er ein Beispiel einmal in der typischen Umgebung eines Mannes seiner Zeit und zum andern in der Umgebung einer Frau seiner Zeit: Männer kümmern sich draußen um die Tiere, hüten sie, Frauen wiederum kümmern sich um den Haushalt und ums Haus selbst.
Auf dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen um Geschlechtergerechtigkeit können wir also durchaus bemerken, wie modern die Bibel ist!

Männer und Frauen gleichermaßen vermissen und suchen, finden und freuen sich und teilen diese Freude mit ihresgleichen – der Mann ebenso wie die Frau.

Tatsächlich ist diese Entdeckung der bewussten Verknüpfung dieser beiden Gleichnisse aber nicht nur ein Zeichen für Geschlechtergerechtigkeit, sondern ein Signal, ein Ausrufezeichen für etwas viel, viel Wichtigeres:
Der Hirte und die Frau stehen für Gott. Und deshalb ist es völlig richtig, wenn wir heute aufhören, uns Gott rein männlich vorzustellen. Sondern Gott sucht wie ein guter Hirte und wie eine gewissenhafte Frau. Oder wir könnten sagen: Gott hat eben männliche und weibliche Eigenschaften und Vorzüge. Auch das gehört zur Botschaft Jesu, zum Evangelium, das er von und über Gott zu verkünden hatte.

Aber gehen wir nun gedanklich von der jeweils aktiven Person im Gleichnis zur passiven, zum Schaf bzw. zum Groschen. Schaf wie Groschen sind verloren gegangen. Es wird gar nicht gesagt, warum und wie. Sie sind einfach verloren gegangen.

Sie stehen beide für den Menschen. Menschen können verloren gehen. Wobei Jesus da sicher weniger an ein Kind denkt, das irgendwo abzuholen vergessen wird oder an einen alten Menschen, der demenzkrank ist und den Weg nach Hause nicht mehr findet. Jesus denkt da wahrscheinlich eher an Menschen, die sich selbst verlieren. Die zwar leben, aber nicht mehr wissen, warum, wozu, wofür.

Das können Menschen sein, die so von ihrer Arbeit, von ihrem Job aufgefressen, dass sie an gar nichts anderes mehr denken können; immer das Handy griffbereit und ständig am Telefonieren und Nachrichten schreiben.
Oder Menschen, die vor lauter Sorgen und Angst gar nicht mehr das Schöne in ihrem Leben entdecken können, die nur noch die Schwierigkeiten und die Probleme sehen und von denen regelrecht aufgefressen werden. Sie gehen verloren, für sich selbst und für Gott. Denn auch ihre Beziehung zu Gott geht verloren.s
Oder eben der verlorene Sohn aus dem Evangeliumstext, der sein Erbteil verprasst und sich so ganz und gar seinen Vergnügungen und Begierden hingibt.

Und was passiert dann?
Was will Jesus uns da erklären?

Dann passiert etwas, das wir gar nicht hoch genug und besonders genug einschätzen können. Dieser verloren gegangene Mensch wird von Gott vermisst! Gott vermisst den Menschen, den er geschaffen hat und der sich selbst verliert und der aus der Nähe Gottes und der Beziehung zu Gott verloren geht.
Dieser Mensch wird von Gott schmerzlich vermisst. Er wird nicht getadelt, er wird nicht zur Buße gerufen, er wird nicht bestraft – nein, er wird gesucht! Gott vermisst den verloren gegangenen Menschen so sehr, dass er ihn sucht – ohne jede Vorbedingung!

Was ist das für ein Gott, der den Menschen sucht, weil er ihn vermisst?
Wir Menschen vermissen das, was uns wichtig ist, was wir lieben. Wenn ich einen Menschen liebe, dann vermisse ich ihn, wenn er eine Zeit lang nicht da ist und ich freu mich riesig, wenn er wieder kommt.
Genauso ist es bei Gott: Gott liebt den Menschen, jeden einzelnen. Zu jedem einzelnen Menschen hat Gott eine besondere und einzigartige Beziehung. Deshalb schmerzt es ihn, wenn er verloren geht. Und deshalb sucht Gott diesen Menschen.

Wenn Gott aber den Verlorenen gefunden hat, dann freut er sich. Dann freut er sich und alle Engel im Himmel freuen sich mit ihm! Und es gibt ein Fest – so wie der Hirte mit seinen Nachbarn und Freunden feiert und die Frau mit ihren Nachbarinnen und Freundinnen.

Und durch dieses Fest, durch diese Freude Gottes findet der wieder gefundene Mensch zu einem Leben, findet er zur "Buße" und Reue. Er merkt nun, wie sehr auch ihm Gott gefehlt hat, wie sehr verloren er war und wie schlecht es ihm eigentlich ging. Er merkt nun, wie schön es ist, eine Beziehung zu Gott zu haben, einen Glauben zu haben, der einen trägt im Leben, einen Gott zu haben, der einen liebt in jeder Stunde meines Lebens, sogar in der Stunde von Fehlern und Sünden.

Auch das ist typisch für Jesus und typisch dafür, wie er Gott darstellt:
Natürlich freut sich Gott darüber, wenn ein Mensch erkennt, dass er auf dem falschen Weg war, dass ihm Gott und seine Gebote egal waren, dass er seine Mitmenschen nicht beachtet hat usw.

Aber Gott macht diese Selbsterkenntnis nicht zur Voraussetzung für die Rettung des Menschen. Gott sucht den Menschen bedingungslos. Er verlangt keine Vorleistung! Gott sucht den Menschen einfach nur, weil er ihn vermisst, schmerzlich vermisst.

Das Schaf muss nicht erst um Hilfe flehen oder dem Hirten bekennen, wie dumm es war, dass es vom Weg abgekommen ist und in die Dornen geraten ist. Und der Groschen kann sowieso nichts bereuen – der ist vielleicht ein noch eindrücklicheres Beispiel dafür, dass wir nichts dazu beitragen müssen, um gesucht und gefunden zu werden.
Gott wird aktiv. Gott sucht den Menschen, weil er ihn vermisst.

Das, liebe Gemeinde, ist diese besondere Art und Weise, wie Gott sucht und warum Gott den Menschen sucht: Einfach aus Liebe, aus übergroßer Liebe zu uns allen!

Amen.