Der Geist Gottes schenkt die Fülle des Lebens!

Predigt zu Römer 8,1-2.10-11 Pfingsten 2022 von Pfr. Stefan Reichenbacher

Liebe Gemeinde!

Der Predigttext zum diesjährigen Pfingstfest steht bei Paulus im Brief an die Römer im 8. Kapitel:

Paulus schreibt: Es gibt also keine Verurteilung mehr für die, die zu Christus Jesus gehören. Das bewirkt das Gesetz, das vom Geist Gottes bestimmt ist. Es ist das Gesetz, das Leben schenkt durch die Zugehörigkeit zu Christus Jesus. Es hat dich befreit von dem alten Gesetz, das von der Sünde bestimmt ist und den Tod bringt.
Wenn Christus jedoch in euch gegenwärtig ist, dann ist euer Leib zwar tot aufgrund der Sünde. Aber der Geist erfüllt euch mit Leben, weil Gott euch als gerecht angenommen hat. Es ist derselbe Geist Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Wenn dieser Gesit nun in euch wohnt, dann gilt: Gott, der Christus von den Toten auferweckt hat, wird auch eurem sterblichen Leib das Leben schenken. Das geschieht durch seinen Geist, der in euch wohnt. (Römer 8,12.10-11)

Dieses Predigtwort ist für mich nicht leicht zugänglich. Es sind theo­logische Kernaussagen des Apostels Paulus in einer für uns heute eher fremden Gedanken­welt, auch wenn ich extra die moderne Über­setzung der Basisbibel verwendet habe.

Manche unter Ihnen werden vielleicht sagen:
Genau das gehört aber zur Kirche, das Fremdartige, das nicht leicht Zugängliche, das Geheimnisvolle, auch eine Sprache, die nicht jeder spricht und gleich ver­steht. Kirche ist eben eine ganz besondere Ge­mein­schaft und Organisation. Und dazu gehören eben solche Texte und Lieder, solche sperrige und nicht leicht eingängige Aussagen.

Andere wiederum werden sagen: Genau das stört mich oft im Gottesdienst: Die Sprache ist so fremd, ich kann vieles nicht richtig verstehen, auch die Lieder und die Liturgie kann ich nicht mitsingen. Ich will eine verständliche Sprache, Aussagen, die mir in den Kopf und unter die Haut gehen. Kirche soll mich ansprechen mit ihrer Botschaft, soll lebensnah sein und soll mir Gedankenanstöße geben.

Die Erwartungen an den Gottesdienst sind in jeder Kirchengemeinde unterschiedlich – manch­mal mischen sich sicher auch die Erwartungen, die ich gerade beschrieben habe, je nachdem.

Im Gottesdienst, in der Predigt, bei Gebeten oder auch beim eigenen Lesen der Bibel oder Nachdenken über biblische Gedanken kommt nun aber noch etwas hinzu – und das ist ein wahrhaft pfingstliches Geschehen: Es ist der Hl. Geist, der uns verstehen und erkennen lässt. Und dieser Geist wirkt, wann und wo er will.

Manchmal sagen mir Leute nach einer Predigt, dass sie ihnen gut gefallen habe, vor allem dieser und jener Gedanke – doch ich stell dann fest,, dass ich diesen Gedanken so gar nicht gesagt hatte!

Hier schafft der Geist ein eigenes Verstehen, dass oft sehr bereichernd ist und einer Predigt einen viel weiteren Horizont gibt als es der Prediger oder die Predigerin beim Vorbereiten und Schreiben der Predigt gedacht und geplant hatte.

Es geht also um eine Aneignung der biblischen Botschaft, die bei jedem Menschen ganz unter­schiedlich sein kann. Dasselbe Bibelwort wirkt auf die einzelnen Menschen völlig unter­schiedlich; und dieselbe Predigt wird vom einen so und von der anderen so gehört. Verantwortlich dafür ist der Geist – und damit sind wir direkt drin in der Pfingstgeschichte!

In der Pfingstgeschichte wird von der Predigt des Petrus gesagt, dass sie von allen Menschen trotz verschiedener Muttersprachen verstanden werden kann. Dieses Wunder fällt uns heute vielleicht schwer zu glauben.
Aber wenn ich statt Mutter­sprache Lebenssituation, Alter, Glaubenserfahrung oder religiöse Sozialisation einsetze, dann passt dieses Bild bis heute: Alle Menschen – egal in welcher Lebenssituation oder mit welchem Bildungsstand, egal welchen Alters oder welcher Glaubenserfahrung können eine Predigt ver­stehen – jeder und jede auf seine und ihre Weise.
Das ist das Werk des Geistes, der letztlich Verstehen ermöglicht und dadurch Glauben schenkt.

Paulus sagt nun, dass in allen, die einmal von diesem Geist angesteckt wurden, dieser Geist wohnt. Er ist also nicht nur eine Flamme, die da auf den Köpfen züngelt, wie es die Pfingst­geschichte erzählt, sondern diese Flamme brennt im Menschen selbst, sagt Paulus. Wenn aber diese Flamme des Geistes in einem Menschen wohnt, dann hilft der nicht nur beim Verstehen einer Predigt – nein, er bestimmt auch dessen Leben, meint er.

Und was haben wir davon?  Das Leben, sagt Paulus. Nicht mehr und nicht weniger: Das Leben in Fülle! Das schenkt uns dieser Geist!
Leben in Fülle jetzt auf dieser Erde und ebenso im Jenseits nach dem Tod!

In der biblischen Botschaft steckt das Feuer der Leidenschaft Gottes für alle Menschen. Der Gott, der in unserer Kirche zur Sprache kommt, ist voller Leidenschaft für alle Menschen, will sie mit seinem Geist und seiner Liebe berühren. Gott will Menschen bestärken im Guten  oder ihnen helfen, dass sie sich wenn nötig verändern, und will ihnen dadurch ein Leben in Fülle schenken.

Paulus umschreibt dies mit den Worten tot bzw. lebendig. Für Paulus sind Menschen tot, die ohne Gott leben, die nicht nach ihm fragen, die sich nicht für seine Botschaft interessieren, die sich nicht durch seinen Geist anstecken lassen und sich auch gegen seine Liebe sperren. Das nennt er dann auch Sünde – ein Leben ohne Gott.
Lebendig dagegen ist für Paulus der Mensch, der sich von Gottes Geist lenken und leiten lässt. Dieser Mensch versucht die 10 Gebote und das Gebot der Nächstenliebe zu halten – nicht, weil er fürchtet, bei Nichteinhaltung verdammt zu werden, sondern weil er weiß, dass Gott uns die Gebote uns als Lebenshilfe gegeben hat.

Paulus ist nun aber nicht blauäugig oder naiv. Er weiß sehr genau, dass auch der Mensch, der sich vom Geist Gottes lenken lässt, noch keineswegs vollkommen ist.
Lebendig sein in seinem Sinne ist nichts Unverlierbares: Es gibt Zeiten im Leben, da ist es ungleich schwerer, diesen Geist in sich zu spüren und sich danach zu richten, dann wieder ist es leichter und einfacher. Sie kennen das sicher aus Ihrer eigenen Biographie: So wie das Leben manchmal leichter und manchmal schwerer fällt, so fällt auch das Glauben manchmal schwerer und manchmal leichter. Wir können manchmal spüren, wie wir im Einklang mit Gott und seinem Geist leben – und dann wieder gar nicht…

Umso deutlicher appelliert Paulus deshalb an seine Adressaten, nicht zu vergessen, dass sie diesen Geist in sich haben – gerade auch in schweren Zeiten. Sie sind lebendig, auch wenn um sie herum der Tod regiert. Dieser Apell ist in unseren Tagen besonders aktuell. Wir können nur hoffen und dafür beten, dass Menschen in Kriegs- und Krisengebieten erleben dürfen, wie der Geist Gottes sie trotz allem lebendig hält.
Paulus ist ein guter Pädagoge: Ein Lehrer oder auch ein Trainer im Sport, der sagt: Ich weiß, du kannst das, der motiviert und wird beim Schüler mehr Erfolg haben als einer, der nur kritisiert und fordert. So macht es auch er.

Was meint nun Paulus konkret damit, wenn er vom Leben, vom wahren Leben spricht?
Sicher gehört zu diesem wahren Leben die Zufriedenheit und die Dankbarkeit dazu, die Aufmerksamkeit für das Kleine und Unbedeutende und die Achtung und Wertschätzung des Mitmenschen. Aber auch die Freude über die Natur und ihre Farben und Düfte, über Lust und Liebe, über gelungene Beziehungen und Freundschaften – all das gehört zum Leben in Fülle, das Gott uns ermöglichen will. Und dieses Leben kann der Tod nicht enden, sondern es mündet in die Ewigkeit.

Vielleicht haben Sie bemerkt, dass ich die Gesundheit nicht mit aufgezählt habe. Und die ist doch die wichtigste, so höre ich es bei fast jedem Geburtstag.
Aber ich denke, Corona hat uns gelehrt, dass die körperliche Gesundheit, die uns der Staat mit allen Mitteln sichern wollte, eben nicht alles ist. Was nützt es dem Pflegebedürftigen im Heim, wenn er zwar körperlich gesund ist, aber seine Kinder nicht mehr zu Besuch kommen können und er sich von seiner Familie verlassen fühlt?
Was nützt es den Kindergartenkindern, wenn sie und ihre Familie zwar gesund sind, aber die Spielkameraden fehlen und die soziale Entwicklung auf der Strecke bleibt?
Natürlich war es gut, gerade die Schwächsten der Gesellschaft zu schützen vor dem Virus – aber der Preis dafür war hoch. Die Auswirkungen dieser Politik aufzuarbeiten, fangen wir jetzt erst an. Im Kinderhaus können Sie am 21. Juni einen Vortrag zu den Auswirkungen der Coronamaßnahmen auf Kinder hören.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Gesundheit ist natürlich wichtig, aber Anderes ist auch wichtig.
Ein kluger Mensch sagte einmal: „Früher sorgten sich die Menschen noch um das Leben im Jenseits und damit um die eigene Seele, heute sorgen sie sich nur noch um ihren Körper, und damit um das Leben im Diesseits.“
Hinter dieser Entwicklung lauert ein problematisches Empfinden: Die einseitige Betonung der Gesundheit kann sehr leicht zur Folge haben, dass wir nichtgesundes Leben als defizitär, als weniger wert betrachten:
Menschen mit Behinderungen, Menschen mit chronischen Krankheiten, Menschen, die im Alter gebrechlich werden, sie alle hätten dann kein schönes und erstrebenswertes Leben mehr.

Aber stimmt denn das?
Ist die Fülle des Lebens nicht doch viel mehr als nur ein gesundes Leben?
Gibt es nicht viele Menschen, die zwar körperlich gesund, aber unzufrieden, grantelig, unausgefüllt und undankbar sind?

Und gibt es umgekehrt nicht auch Kranke, die trotz schwerer Krankheit nicht eine unglaubliche Gelassenheit und sogar Lebensfreude ausstrahlen?
Deshalb also habe ich die Gesundheit nur unter Vorbehalt zur Fülle des Lebens gerechnet – obwohl natürlich jeder und jede dankbar sein wird für die Gesundheit, die Gott schenkt.

Die Fülle des Lebens des Lebens also will Gott uns schenken durch die schöpferische Lebenskraft seines Heiligen Geistes: Zufriedenheit, Dankbar­keit, Achtung, Freude, Liebe – und in gewissem Maß auch Gesundheit...
Von dieser Fülle des Lebens wollen wir in der Kirche erzählen und mithelfen, dass Menschen diese Fülle des Lebens in ihrem eigenen Leben entdecken und dankbar wahr­nehmen können. Nicht nur in der Predigt im Gottesdienst, sondern auch in allem, was Ehrenamtliche in und für diese Kirche reden und tun. Dann entfaltet sich der Geist Gottes in seiner Kirche und darüber hinaus. Dann steckt die Kraft dieses Geistes Menschen mit der Flamme der Liebe Gottes an und verhilft zu wahrem Leben. 
Dann geschieht Pfingsten!