Die Steine schreien und jubeln hören

Predigt an Kantate 2021 zu Lukas 19,37-40 von Pfr. Stefan Reichenbacher

 

Liebe Gemeinde!

Ich weiß schon gar nicht mehr, wie lange wir schon nicht mehr im Gottesdienst alle miteinander singen dürfen. Aber ich weiß, wie sehr es vielen von Ihnen fehlt. Und gerade hier in Reutti sind wir eigentlich eine Gemeinde, in der viel und gut gesungen wird – natürlich auch dank unserer vielen Chormitglieder.

Wer singt, betet doppelt, heißt es in Bezug auf das Singen von religiösen Liedern. Und jeder von uns weiß, dass bei einer Beerdigung oder auch bei einer großen Passionsmusik die gesungene Botschaft noch viel mehr unter die Haut geht als die gesprochene. Das Singen gehört schon immer ganz wesentlich dazu, wenn Gefühle ausgedrückt werden sollten. Auch Steinzeitmenschen haben wahrscheinlich schon Gesänge für die verschiedensten Anlässe gehabt. Aus allen Kulturen sind religiöse Gesänge bekannt.

Auch die Bibel ist voll von Gesängen – am bekanntesten sind die Psalmen. Leider sind die alten Melodien verloren gegangen – aber man weiß, dass es Melodien gab, auf die einzelne oder auch mehrere Psalmen gesungen wurden – so wie es in unserem Gesangbuch auch manche Choräle gibt mit verschiedenen Liedtexten.
Ebenso wird in der Bibel immer wieder von Gesängen und Liedern Einzelner erzählt – Mose z.B. singt am Ende seines Lebens ein langes Danklied, seine Schwester Mirjam singt ein Loblied, nachdem Gott sein Volk durchs Meer hindurch vor den Ägyptern gerettet hatte. Und in der Weihnachtsgeschichte des Lukas singen und musizieren die Engel, nachdem den Hirten die Weihnachtsbotschaft verkündet war: Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen – in jedem normalen liturgischen Gottesdienst wird dieser Weihnachtsgesang aufgenommen.

Unser Predigttext heute ist ein vergleichsweise unbekannter Abschnitt über das Singen aus dem Lukasevangelium. Er wird erst seit kurzem im Gottesdienst regelmäßig gelesen. Er hat es sogar geschafft, zum Evangelium dieses Sonntags zu werden. Heuer soll darüber gepredigt werden – zum ersten Mal!

Die wenigen Verse sind ein Teil des Einzugs in Jerusalem, wie Lukas ihn erzählt. Jesus reitet auf dem Eselsjungen in die Stadt Jerusalem hinein, die Leute jubeln ihm zu, werfen ihre Mäntel auf die Straße und winken mit Palmzweigen – soweit kennen wir das auch von den anderen Evangelisten.
Lukas als einziger betont nun, dass Jesus zu dem Zeitpunkt noch vor der Stadt ist und durch das Kidrontal zwischen der Stadt und dem Ölberg entlang reitet. Von dort aus will er die Stadt zu betreten, von Osten, von wo aus von den Juden auch der Messias bei seinem Einzug erwartet wird. Das ist der Grund, warum heutzutage der halbe Ölberg ein Friedhof ist, denn wenn der Messias kommt, dann, so glauben viele Juden, werden die Toten auferstehen und mit ihm in die neue Welt Gottes ziehen.

Ich lese aus Lukas 19:

Als Jesus schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen:
Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!
Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht!
Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.
                                                                                          
(Lukas 19,37-40)

Die Menge jubelt.
Sie jubeln, sie schreien, sie singen, sie frohlocken.
Die Menschen damals hatten allen Grund, sich zu freuen. Sie erkannten und glaubten Jesus als den Messias – und Jesus, der sich selbst zwar nie als Messias bezeichnete, tat zu diesem Zeitpunkt noch alles, was die Leute vom Messias erwarteten:
Er ritt auf einem Eselsfüllen wie es der Prophet Sacharja schon angekündigt hatte und worin immer am Palmsonntag erinnert wird.
Er lässt sich als König Israels ausrufen – und das ist nun mal der irdische Titel des Messias.
Und er kommt von Osten her in die Stadt, von der Seite des Ölbergs, genau von dort, von wo auch der Messias erwartet wurde.

Das Volk ist begeistert!
Doch die Pharisäer, die schriftkundigen Laien unter den Jubelnden, warnen Jesus. Sie erkennen ihn als Meister, als Rabbi, als Lehrer zwar an, doch sind sie kritische Anhänger und erkennen, welcher Zündstoff sich im Verhalten Jesu und im Verhalten der jubelnde Menge zusammenbraut: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Damit wollen sie Jesus warnen, dass er nicht die jüdische Obrigkeit gegen sich aufbringt, denn natürlich werden diese erst recht erkennen, wie sehr Jesus als Messias auftritt.

Jesus versteht natürlich diese Warnung. Aber er ignoriert sie, ja, er setzt sogar noch eins drauf mit den Worten: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.
Was heißt das?
Steine können doch nicht schreien…???

Wenn wir bei Lukas weiterlesen, dann wird sein Hinweis auf die schreienden Steine verständlicher: Er reitet nämlich nicht geradewegs in die Stadt hinein, sondern hält inne beim Anblick der Stadt und sagt über Jerusalem: „Deine Feinde werden dich dem Erdboden gleich machen und keinen Stein auf dem anderen lassen.“ Jesus sieht die kommende Zerstörung der Stadt durch die Römer voraus.
Zugleich aber steht Jerusalem immer auch für das Volk Israel im Gegenüber zum Gott Israels. Und indem die Mehrheit des Volkes, insbesondere die religiöse Oberschicht, Jesus ablehnt, erkennen sie nicht, was zum Frieden dient. Unter Tränen sagt Jesus deshalb, warum das geschehen wird: „weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du besucht wurdest.“

Gott hat seine Stadt, hat sein Volk besucht – in Jesus Christus. Doch die wenigsten erkannten das, die meisten schrien wenig später „Kreuzige ihn!“
Etwa 40 Jahr später wurde Jerusalem zerstört. Die riesige Klagemauer, einst Westmauer des Tempels wurde zu schreienden Steinen. Sie ist Ort der Klage für Juden bis heute. Zugleich ist sie aber auch Ort der Hoffnung: Hier werden Gebete, geschrieben auf kleine Zettel, in die Ritzen der Steine gesteckt, weil Gott sieht und hört, wer vor dieser Mauer steht und trauert und hofft.

Auch bei uns gibt es noch immer viele Ruinen: Die Gedächtniskirche in Berlin wurde bewusst als Mahnmal stehengelassen – Steine, die unhörbar schreien und an Unrecht und Krieg erinnern.
Das Holocaust-Denkmal in Berlin besteht nur aus großen Steinquadern. Sie sind nur scheinbar stumm und nur Ewiggestrige können fordern, dass wir nach mehr als 75 Jahren die Nazizeit doch vergessen könnten.
Kein Wunder auch, dass irgendwann jemand die Idee hatte, an deportierte Juden in Städten ausgerechnet durch Steine zu erinnern, durch sog. Stolpersteine…

Steine können schreien, können mahnen, können zur Umkehr rufen. Schon bei dem Propheten Habakuk im  Alten Testament steht geschrieben, dass die Steine das Unrecht, das die Mächtigen tun, herausschreien werden! Jesus greift da also nur einen Gedanken auf, den es im Judentum seiner Zeit bereits gab.

Steine können also schreien – aber nicht nur von Unrecht und Ungerechtigkeit – sie können auch die Größe Gottes preisen und helfen, ihm die Ehre zu geben:

Unsere Kirchen sind in aller Regel auch aus Stein! Aufgerichtet, um einen heiligen Raum zu schaffen, in dem gläubige Menschen Gott ganz besonders nahe sein können. Der Kirchturm wird zum steinernen Zeigefinger, der in den Himmel, zur unsichtbaren Welt Gottes zeigt. Und innerhalb dieser zur Kirche aufgerichteten Steinmauern wird gebetet, verkündigt und gesungen – wird Gott zugejubelt, wird Gott geklagt, wird ihm von den Menschen Ehre gegeben.

Denken wir nun noch an die Steine, wie wir sie in der Natur finden: Da gibt es alle Schattierungen, da gibt es scharfkantige, vom Gletscher geschliffene oder ganz weiche, vom Wasser geglättete. Es gibt unscheinbare und funkelnde, es gibt welche, die in den Augen der Menschen wertlos sind und andere, für die der Mensch viel Geld zu zahlen bereit ist. Sie verraten viel von der Freude an Vielfalt und an Kreativität wie Gott sie in seiner ganzen Schöpfung zeigt.

Für mich sind schließlich die Steine, die sich zu Felsen, zu Bergen aufgetürmt haben, ganz wichtig: Sie verraten mir etwas von der Größe, von der Erhabenheit Gottes in seiner Schöpfung. Sie rufen, sie tönen in meiner Vorstellung wie ein großer Chor, der den Schöpfer lobt und preist. Wir kennen wahrscheinlich alle die Ehrfurcht, die uns beim Anblick eines hohen Berges erfasst, wenn wir an dessen Fuße stehen.

Wenn wir jedoch beobachten, wie Berge einzustürzen drohen wie der Hochvogel im Allgäu oder wenn Stein- und Gerölllawinen Dörfer in Bergtälern verschütten, weil der Permafrost die Felsen nicht mehr zusammenhält, dann mahnen und warnen uns die Berge. Der Klimawandel betrifft die gesamte Schöpfung – und wenn sie leidet, leidet auch der Mensch. Auch hierfür können die Steine und Felsen schreien – wir müssen es nur hören wollen!

Menschen können zum Schweigen gebracht werden.
Menschen kann auch das gemeinsame Singen verboten werden.
Aber der Jubel und die Klage, die Dankpsalmen und die Trauerlieder, die Hymnen über Gott und die Welt, auch die Klage über menschliches Versagen und menschliche Schuld – all das bleibt! Wenn wir Menschen es nicht können – die Steine und die Berge können uns diese Gesänge vermitteln, ja, die gesamte Schöpfung kann das tun.

Gerade die verschiedenen Jahreszeiten haben sozusagen ihre je eigene Stimmung, ihre eigene Botschaft:
Jetzt im Frühling die Hoffnung, aber auch die Sorge vor zu wenig Regen, im Sommer die Lebensfreude, aber auch die Sorge über zu hohe Temperaturen für unser Klima, im Herbst dann die Dankbarkeit über die Ernte, aber auch die Zeit der Trauer und schließlich im Winter der Abschied und zugleich das Einhüllen und Verhüllen des Vergangenen.

Die ganze Natur kann uns ein Lehrmeister sein – und die Steine wohl ganz besonders: Die Steine in der Natur ebenso wie die von Menschenhand geformten und gestalteten.
Sie können mahnen und warnen, sie können klagen und schreien, sie können jubeln oder der Majestät Gottes die Ehre geben.

Und wir können uns von den Steinen wiederum anregen und animieren lassen: Wenn wir jetzt nicht zusammen singen können, dann können wir doch zusammen diese Gefühle erleben und im Angesicht Gottes miteinander teilen – besonders hier zwischen den Steinmauern unserer Kirche.

Amen.