Einigkeit macht stark? - Ja, wenn Vielfalt dahinter steckt!

Predigt zu 1. Mose 11,1-9 zu Pfingstsonntag 2021

von Pfr. Stefan Reichenbacher

 

 

Liebe Gemeinde!

Einigkeit macht stark!
Das ist ein Glaubenssatz, der auf Erfahrung beruht. Manche Länder haben sich ihn sogar zum Motto ihres Landes, ihres Staates gewählt – Bulgarien z.B. oder Südafrika.

Der „Team-Gedanke“ steckt hinter diesem Satz. Wenn ein Team sich einig ist, dann können die Mitglieder dieses Teams viel bewirken. Das kann man sehr schön bei Teamsportarten beobachten. Wenn da „Teamgeist“ vorhanden ist, dann geht da viel.
Nicht anders ist es in der Arbeitswelt. Wenn die Leitung es schafft, die Mitarbeitenden zu einem Team zu formen, dann ist das der Schlüssel zum Erfolg: Themen und Probleme werden dann miteinander so diskutiert und gemeistert, dass am Ende alle zustimmen können und sich einig über den Weg zum Ziel sind - und dann geht da auch was voran!Für Länder und Staaten gilt das natürlich auch. Also: Einigkeit macht stark!

Das ist doch gut, oder?

Nun, vielleicht sollten wir noch ein bisschen genauer hinschauen. Was ich soeben mit Teamgeist und gemeinsamem Weg und Ziel beschrieben habe, setzt voraus, dass sich da ganz verschiedene Menschen zusammentun: Menschen mit verschiedenen Charakteren, mit verschiedenen Lebenserfahrungen und -geschichte, mit verschiedener Ausbildung und Wissen, vielleicht sogar mit verschiedenen Kulturen. Wenn die es schaffen, so ein gemeinsames Ziel zu formulieren und einen gemeinsamen Weg dorthin zu gehen, dann ist das sicher ein Beispiel für so eine Einigkeit, die stark macht, im ganz positiven Sinne!

Es gibt aber noch andere Formen von Einigkeit. Wenn sich zum Beispiel Menschen zusammentun, weil sie meinen, sie hätten dieselbe Hautfarbe, dieselbe Kultur, dieselbe Sprache, dieselbe „Rasse“, dieselben Ansichten usw. Auch die können für sich diesen Satz in Anspruch nehmen: „Einigkeit macht stark!“ Aber das scheint mir dann schon eine problematische Einigkeit zu sein. Totalitäre Systeme bauen auf so einer gleichförmigen Einigkeit auf.
Die kann dazu führen, sich selbst zu überschätzen oder andere auszugrenzen und sie schafft eine Form von Gleichförmigkeit, die uns Menschen eigentlich nicht entspricht. Wir sind individuell gemacht, jeder Mensch hat seine ganz eigene Persönlichkeit und wir sind vielfältig!
Interessant, dass die deutsche Sprache der Vielfalt die Einfalt gegenüberstellt und dass da die Vielfalt auf jeden Fall besser wegkommt…

Also: Einigkeit macht stark – ja, wenn es eine Einigkeit ist, um die gerungen wurde, die die Vielfalt der Menschen und ihrer Meinungen integrieren kann.

Die Gefahren von allzu viel Einigkeit, die am Ende sogar zu gefährlichem Übermut und Selbstüberschätzung führt, stecken hinter dem Predigttext des diesjährigen Pfingstfests: Es ist die Geschichte vom Turmbau zu Babel.

Ich lese aus der Übersetzung der Basisbibel:

Lesen 1. Mose 11,1-9

 

II. Gott schreitet ein gegen diese allzu große Einigkeit. Er sieht die Gefahr der menschlichen Hybris, der Selbst­überhöhung und der Selbstüberschätzung.
Gott erkennt: Der Versuch, diesen Turm und die Stadt drum herum zu bauen, ist ein Versuch der Menschheit, ohne Gott zu leben. Es ist der Versuch, sich allein auf die eigene Kraft und Stärke zu verlassen und nicht mehr auf die Hilfe Gottes.
Gott weiß, dass dies dem Menschen nicht gut tun wird. Dass seine selbstgebauten Türme einstürzen werden. Deshalb verhindert er den Plan, indem er die Menschheit ihrer gemeinsamen Sprache beraubt.

Im ersten Moment hört sich das fast ungerecht, bzw. vor allem ungerechtfertigt an. Doch eigentlich ist dies eine sehr kluge Maßnahme:
Gott will nicht Gleichförmigkeit im Denken und im Handeln, sondern Vielfalt und Abwechslung, Unterschiede und Verschiedenheit. Wir brauchen nur die Schöpfung um uns herum zu betrachten: Es gibt eben nicht nur eine Art von Blumen und Sträuchern und Bäumen – sondern ganz, ganz viele verschiedene! Und es ist schrecklich, wenn der Mensch die Schöpfung ihrer Vielfalt beraubt und Arten durch Menschen gemachte Vernichtung von Lebensräumen aussterben und die Vielfalt dadurch reduziert wird.
Ebenso will Gott auch verschiedene Menschen mit vielfältigem Denken, Reden und Handeln. Nur eine einzige Sprache würde da nicht passen. Der Vielfalt der Menschen entspricht die Vielfalt der Sprachen. Sprache drückt immer aus, welches Bewusstsein ein Mensch hat und Sprache fasst immer auch die Kultur und das Lebensumfeld der jeweiligen Menschen in Worte.

Da gibt es übrigens interessante Beispiele: Im Deutschen kennen wir das Wort „Schadenfreude“ – im Englischen gibt´s dafür kein Wort, die Engländer nehmen dafür „Schadenfreude“ als Fremdwort aus dem Deutschen – etwas peinlich aus meiner Sicht…
Oder: Im Deutschen kennen wir das Wort „Fernweh“ – gibt´s im Englischen auch nicht; bekanntlich sind die Deutschen die Reiseweltmeister, zumindest wenn nicht gerade Corona-Einschränkungen gelten.
Auch das Wort „Abendbrot“ ist typisch deutsch. Es verrät, wie gerne und selbstverständlich wir Brot essen – in anderen Sprachen heißt das halt einfach Abendessen.
Interessant ist auch, dass wir zwar ein Wort für nicht mehr hungrig sein haben – nämlich satt. Aber wir haben kein Wort für nicht mehr durstig sein. Offenbar haben wir Deutschen immer Durst und das nicht nur in Bayern…

Die sprachliche Vielfalt ist also Ausdruck der menschlichen Vielfalt! Was also im ersten Moment wie eine schlimme göttliche Strafe wirkt, ist in Wahrheit eigentlich eine kluge und weise Unterstützung Gottes zu Vielfalt und Unterschiedlichkeit, die bei den Menschen ebenso wichtig ist wie in der Natur!

 

III. Aber – und dieses Aber gibt es natürlich schon auch: Die Verschiedenheit der Sprachen bewirkt, dass Menschen sich nicht verstehen und dadurch feindlich gesinnt sein können. Unzählige Missverständnisse entstehen aufgrund von Sprachproblemen. Und die Verschiedenheit von Sprachen kann auch bewirken, dass Menschen von dieser Verschiedenheit auf unüberbrückbare Gegensätze und Unterschiede schließen, die eine Verständigung nur schwer möglich machen. Wenn sie z.B. einen Palästinenser arabisch sprechen hören, dann klingt das in unseren Ohren oft leicht aggressiv. Eine Palästinenserin dagegen spricht sehr viel weicher. Aber das gehört eben zu dieser Sprache und dieser Kultur dazu – nur für uns ist das eben sehr fremd. Und leicht ziehen wir daraus falsche Schlüsse!

Gott griff nun von neuem ein. Doch diesmal auf eine hintergründigere Weise: Diesmal schenkte er der Menschheit nicht die Vielfalt der Sprachen, sondern einen neuen Geist. Das Hintergründige daran ist:
Eine jede Sprache besteht aus Worten. Hinter jedem Wort steckt ein Gedanke. Und jeder Gedanke wird im Geiste und mit Hilfe des menschlichen Geistes entwickelt.
Gott wollte nun nicht einfach die babylonische Sprachverwirrung wieder rückgängig machen, sondern er wollte den Geist verändern, der die Gedanken entwickelt, die dann zu Worten und zur Sprache werden. Deshalb ist das Neue, das Gott den Menschen beschert nach Karfreitag und Ostern nicht nur der Glaube an Jesus Christus, sondern vor allem die Gabe dieses Geistes!

Der Geist von Pfingsten, ausgesandt von Gott Vater und von Gott Sohn ist ein Geist der Einheit und der Verständigung. Es ist ein Geist, der die Herzen der Menschen erreichen will und in ihnen die Liebe zu ihrem Mitmenschen erwecken will. Und dieser Geist will den Menschen helfen, auch einen Teamgeist zu entwickeln – als Gemeinschaft von Glaubenden, als Gemeinde, als Kirche…
Dieser Geist will nicht Gleichförmigkeit und Einfalt fördern, sondern lebt geradezu auf in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Menschen, denn dadurch entsteht Reichhaltigkeit und Fülle!

 

IV: Wir können uns das folgendermaßen vorstellen:
Wenn wir ein großes, schwieriges Projekt angehen wollen, dann bilden wir normalerweise ein Team. Wir sammeln vielfältige Ideen, wir probieren das eine oder andere aus, wir prüfen, was möglich ist und was sich bewährt, wir verwerfen Manches, doch irgendwann haben wir den passenden Plan und setzen ihn um.
Würde sich stattdessen nur einer alleine hinsetzen, käme da sicher auch eine Idee heraus und am Ende auch ein Plan – aber die Qualität und die Fülle von Ideen und Möglichkeiten wäre sicher bei weitem nicht dieselbe.
Genauso geschieht es übrigens zurzeit in unserer Evangelischen Landeskirche in Bayern. Wir müssen leider sparen, wir werden immer weniger Mitglieder und auch weniger Pfarrer und Pfarrerinnen. Wir müssen genau überlegen, wo wir was und wen einsparen können. Aber wie wir das am besten schaffen und umsetzen, das überlegen wir in Teams in unserer Region Ulmer Winkel – denn dann bekommen wir viel bessere Ergebnisse als wenn das von oben einfach angeordnet würde.
Die Vielfalt und Verschiedenheit unserer Gemeinden und Gemeindeglieder wird auf diese Weise zusammengebracht – und der Geist von Pfingsten wird da ganz wesentlich mithelfen. Auch wenn wir in mancher Hinsicht ganz verschieden denken, werden wir doch bestimmt zu einer guten Einigkeit kommen, die uns stark macht!

 

V. Pfingsten ist das Fest der Kirche, auch das Fest der Ökumene und das Fest der Einheit – in aller Vielfalt. Die Vielfalt der verschiedenen Sprachen wird bleiben, auch die Vielfalt der Konfessionen und christlichen Gruppen – aber der eine Geist, der alle Menschen bewegt und zum Guten bringen kann, der ist unterwegs, unentwegt.
Dieser eine Geist befruchtet uns in unserer kirchlichen Arbeit ganz entscheidend, aber er wirkt auch, wenn nun auf der ganzen Erde von den Staaten immer mehr erkannt wird, wie wichtig Klimapolitik und Umwelt- und Naturschutz sind. Er wirkt auch, wenn wir durch die Folgen der Coronakrise und ihrer Einschränkungen reflektieren, was wirklich notwendig ist in unserem Alltag und in der Berufswelt und was nicht. Und er wirkt, wenn wir wieder neu zu schätzen wissen, was wir eigentlich für selbstverständlich gehalten haben.

So hilft uns der Geist von Pfingsten, der Geist Gottes zum Neu-Denken, Neu-Sprechen und Neu-werden – und das in einer neuen Einigkeit, die wahrhaft stark macht!

Amen.