Gedanken zum 13. Sonntag nach Trinitatis - "Nächstenliebe" am Beispiel von Apg 6,1-7 von Pfr. Stefan Reichenbacher

Essen gut – alles gut! Vielleicht kennen Sie diesen Spruch. Bei einer Vielzahl von Konfirmanden­frei­zeiten und Seniorenausflügen gleichermaßen hat sich dieser Spruch für mich bewahrheitet. Wehe, wenn das Essen nicht gut war... Dann sank gleich die Stimmung.

Noch problematischer ist es, wenn in einer Gruppe die einen mehr und die anderen weniger oder gar nichts bekommen. Undenkbar. Wäre ja total unge­recht! Ich erinnere mich gut daran, wie wir Kinder früher in der Familie peinlich genau darauf ge­achtet haben, dass alle gleich viele Erdbeeren bekamen, wenn Erdbeerzeit war. Mein Vater füllte dann die Schälchen möglichst gleich voll. Damit aber dennoch kein Streit entstehen konnte, durfte eines von uns Kindern sich in die Ecke stellen und, ohne etwas zu sehen, bestimmen, wer jeweils das Schälchen bekommen sollte, auf das der Vater zeigte. Gerechtigkeit in der Familie und in der Gruppe – etwas gaaanz Wichtiges!

 

In unserem Bibeltext heute geht es um genau diese Probleme in der Urgemeinde in Jerusalem. Da gab es viele arme Menschen, die versorgt werden mussten. Und das klappte anfangs über­haupt nicht.

 

Die Einheimischen wurden gut versorgt von den Aposteln – nicht aber die Fremden, die Zuge­reisten. In der Apostelgeschichte werden sie von Lukas „Griechen“ genannt. Das heißt nicht, dass sie unbedingt aus Griechenland stammten, son­dern dass sie griechisch sprachen – im Gegensatz zu den Einheimischen, die hebräisch bzw. genau genommen aramäisch sprachen wie einst Jesus. Diese Zugereisten waren aus den Nachbarländern Israels nach Jerusalem ge­kommen. Sie sprachen griechisch, weil das damals die Weltsprache war wie heutzutage Englisch. Sie waren aber genau wie die Einheimischen und hebräisch Spre­chenden getaufte Christen. Die meisten von ihnen waren ursprünglich Juden, manche aber auch sog. Juden­genossen, sog. Proselyten: das heißt, sie waren nicht als Juden geboren worden, sondern erst später zum jüdischen Glauben übergetreten. Das gab es bei den Einheimischen genauso wie bei den Zu­gereisten.

 

Also ein ziemlich buntes Völkchen, diese Jerusalemer Urgemeinde – kein Wunder, dass da Konflikte nicht ausblieben, wie es halt immer so ist, wenn viele Menschen zusammenkommen und zusammenleben.

lesen Apg 6,1-7

 

Interessant ist, dass die Apostel offenbar die hebräischen Witwen gut versorgen, die grie­chi­schen hingegen nicht. Der Evangelist Lukas, der die Apostelgeschichte als Fortsetzung seines Evangeliums verfasst hat, geht da zwar nicht genauer drauf ein, aber es ist aufschluss­reich, dass diese Männer, die die Versorgung der griechischen Armen übernehmen sollen, aus­schließ­lich römische und vor allem griechische Namen haben, aber keine hebräischen.

 

Diese sieben Auserwählten haben auch einen Sprecher und Anführer mit Namen Stephanus. Er wird später der erste christlicher Märtyrer werden. Bekannt und verfolgt wurde er aber keineswegs wegen seines besonderen Engagements oder Talents bei der Witwenversorgung, sondern weil er voll Hl. Geistes war und predigen konnte – einem Petrus, dem Anführer der Apostel, durchaus ebenbürtig.

Auch wenn Lukas es hier so darstellt, als würden diese sieben als Armenpfleger beauftragt, geht es hier historisch betrachtet wohl um etwas völlig anderes: Viel spricht dafür, dass schon damals in Jerusalem zwei christliche Gemeinden entstan­den: Einmal die Einheimischen, die aramäisch sprechenden mit den Aposteln, den ehemaligen Vertrauten Jesu, an der Spitze, die auch „die Zwölf“ genannt wurden.

Die andere Gruppe aber waren die Zugereisten, die griechisch Sprechenden, die mit Stephanus und den anderen sechs Männern eine Siebener­gruppe als Gemeindeleiter hatten. Diese ver­hielten sich genauso wie die Apostel: Sie predig­ten und beteten und leiteten ihre Gemeinde.

Anders als die Apostel predigten sie aber sehr viel kritischer gegenüber den jüdischen Gesetzen und dem Tempelkult. Und deshalb kam es später dazu, dass sie von den Tempelbehörden und übereifrigen Pha­ri­säern wie Paulus verfolgt und getötet wurden. Paulus war mit dabei, als Stephanus gesteinigt wurde.

Wäre Stephanus tatsächlich nur ein Armenpfleger gewesen, wäre er für die jüdischen Behörden nicht interessant gewesen und wäre sicher nicht gesteinigt worden.

Die hebräischen Christen hingegen ver­hielten sich weniger kritisch dem Judentum gegen­über, deshalb wurden sie zumindest anfangs in Ruhe gelassen.

 

Als Lukas die Apostelgeschichte verfasst, liegen diese Ereignisse etwa 60 Jahre zurück. Und manches hat sich in den Gemeinden, die in diesen 60 Jahren bald auch außerhalb Jerusalems ent­standen anders entwickelt als ursprünglich in der Urgemeinde in Jerusalem. So hat Lukas, der etwa im Jahr 90 sein Evangelium und die Apostel­geschichte verfasste, möglicherweise schon das Amt des Diakons gekannt, also das Amt, das hier angedeutet wird: Die Versorgung der Armen durch Männer, die dazu extra berufen und eingesetzt sind. Hinter dem Begriff „Diakon“ steckt das griech. diakonein, das ganz einfach „dienen“ bedeutet.

Lukas verknüpft dieses Amt der Diakone mit den Namen dieser frühen griechischen Gemeinde­leiter rund um Stephanus.

 

Was Lukas aber historisch sicher völlig richtig erzählt, ist, dass die griechischen Witwen schlecht versorgt wurden im Gegensatz zu den hebräi­schen. Wie konnte das geschehen?

 

Da wird unser Text plötzlich ganz aktuell. Hier zeigen sich Probleme, die wir heute auch meistern müssen. Nehmen wir Reutti, Finningen oder Jedelhausen: Überall leben noch viele Menschen im Großfamilienverbund. Die Großeltern werden von den Töchtern und Schwiegertöchtern versorgt. Für die Alten ist ein soziales Familiennetz da.

Die Zugereisten hingegen stehen oft alleine da, ohne Großfamilie am Ort.

Oder aber die Kinder leben wegen der Arbeit ganz woanders und die Alten bleiben alleine im Dorf zurück – das geht heute Einheimischen wie Zugereisten gleichermaßen so, dass die Kinder eben weit weg wohnen und vor Ort keine jüngeren Familienangehörigen da sind, die einen im Alter unterstützen könnten.

Wir haben heute Gott sei Dank einen Sozialstaat und ein soziales Netz, das trotz viel berechtigter Kritik besser funktioniert als in den meisten anderen Ländern der Erde.

 

Damals in Jerusalem funktionierte die Armen­versorgung unter den einheimischen hebräischen Christen auch recht gut. Sie lebten in großen Familienverbänden und im Judentum wurden die Armen traditionell relativ gut versorgt.  

Aber diese zugereisten Griechen fielen durch dieses soziale Netz und blieben außen vor. Viele von ihnen waren erst im Alter nach Jerusalem gezogen – ohne Familie, nur die alt werdenden Ehepaare. Warum nur das?

Weil nach jüdischer Über­zeu­gung der Messias vom Ölberg aus in die Stadt einziehen wird und dort als erstes die Toten auferwecken wird. Deshalb versuchten fromme Juden – und das tun manche bis heute – einen Grabplatz auf dem riesigen Friedhof am Ölberg zu ergattern. Wie heutzutage auch starben meist die Männer zuerst und die Witwen blieben übrig und hatten schnell ihre finanziellen Mittel verbraucht und litten Not. Und keiner versorgte sie.

Deshalb dieser Aufschrei der griechischen Christen in Jerusalem.

 

Auch wenn wir nun wissen, was da historisch alles hinter diesem scheinbar kleinen Konflikt verborgen ist: Entscheidend war für die Kirche später, dass sie erkannte, dass Predigen und Beten alleine nicht reicht. Auch das Tun des Guten, das Versorgen der Bedürftigen, das Dienen für die Menschen gehört zum Handeln der Kirche und jeder Gemeinde unbedingt dazu. Erst dadurch wird der Glaube an Gott wahrhaftig!

Heute könnten wir sagen: Ohne die Diakonie wäre die Kirche unvollständig und würde ihren Auftrag nicht erfüllen. Jesus hat immer gepredigt und geheilt, er hat Geschichten von Gott erzählt und Gutes an den Menschen getan.

Wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir uns allerdings eingestehen, dass die Kirche in Europa, gerade auch in Deutschland, das erst Mitte des 19. Jahrhunderts so richtig verstanden hat. Da gründete ein Pfr. Johann Hinrich Wichern das sog. Rauhe Haus in Hamburg und nahm dort männliche Straßenkinder auf. Später, 1848, hielt er eine bemerkenswerte Rede auf einer Art Evangelischem Kirchentag und öffnete der Kirche die Augen für die soziale Not, die durch die industrielle Revolution in der Arbeiterschaft entstanden war: Das war die Gründungsstunde der damals sog. Inneren Mission – dem früheren Begriff dessen, was wir heutzutage als Diakonie und diakonisches Handeln der Kirche bezeichnen.

Seither kann man von der Diakonie als dem handelnden, helfenden und dienenden Arm der Kirche sprechen.

 

 

Ich bin sehr dankbar, dass es unzählige Menschen in unseren Dörfern gibt, die ohne viel Aufhebens ganz selbstverständlich ihre Nachbarn unterstützen, regelmäßig bei älteren Mitmenschen nach dem Rechten sehen oder Hilfen im Alltag anbieten. Gerade die Corona-Zeit hat das wieder gezeigt, dass diese Hilfe über den Gartenzaun oder an der Nachbartür bei uns sehr gut funktioniert.

All das sind die Dinge, die den Worten Taten folgen lassen, die den Glauben an Gott wahrhaftig machen.

 

So hat Lukas mit seiner historisch zwar nicht ganz korrekten Darstellung des Stephanus und der anderen sechs griechischen Gemeindeleiter doch etwas ganz Wesentliches in der Kirche bewirkt. Die Christen haben dadurch verstanden, dass die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen zusammen­gehören: Gottesdienst, Gemeindeleben und Diakonie, das Predigen des Evangeliums und das Handeln nach dem Evangelium! Und ganz nebenbei hat Lukas dadurch auch einen neuen Beruf geschaffen – den des Diakons und heute auch der Diakonin.

 

Amen.