Gott richtet, um aufzurichten

Predigt zu Hebräer 4,12-13 von Prädikantin Anita Kämmer-Frey

Liebe Gemeinde,

„Der liebe Gott sieht alles!“ kennen sie diesen Spruch?
..vielleicht aus ihrer Kindheit?
..vielleicht, weil sie ihn , als erzieherisches Hilfsmittel auch selber gern benutzen oder benutzt haben.

Ja, der liebe Gott sieht alles, sieht hinter die Fassade, bis in die tiefsten Tiefen unseres Herzens, da wo vielleicht wir selbst nicht einmal mehr durchblicken, geschweige denn unsere Mitmenschen.
Unsere innersten Regungen liegen vor Gott nackt da,
unsere Freude, aber auch Traurigkeit und Angst,
unser Vertrauen aber auch unser Misstrauen,
unser Glauben aber auch unser Unglauben.

Macht uns das Angst oder empfinden wir es als beruhigend?

Was für Augen sind es, die uns ansehen?
..liebevolle und verständnisvolle Augen, oder die Augen des Richters, der streng und unnachgiebig sein Urteil über uns fällt?

Welches Wort wird über uns gesprochen?

 

Wir hören über die Macht von Gottes Wort aus dem Brief an die Hebräer im 4. Kapitel, die Verse 12 und 13

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwer, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, uns ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.   

Liebe Gemeinde,
ganz schön hart diese Worte, fast ein wenig grausam klingen sie.

An wen waren sie gerichtet?

Der Hebräerbrief richtete sich nicht an eine neu gegründete Gemeinde, in Rom, oder dem heutigen Griechenland, die weit entfernt liegen von den Stätten an denen Jesus gewirkt hat. Mit den sog. Heidenchristen gab es einen ausgiebigen Briefwechsel von der Ursprungsgemeinde im Heiligen Land aus.

Nein, die Worte sind gerichtet an die Hebräer, also an die Menschen, die aus dem Judentum heraus zu Christen geworden waren, denen das Wort Gottes, seine Botschaft und die Gebote von Anfang an vertraut waren.
Es waren also die Menschen, die dort lebten, wo Jesus vor nicht allzu langer Zeit gelebt und gewirkt hatte und die ihm deshalb eigentlich ganz besonders nahe hätten sein müssen. 

Und ausgerechnet diese Menschen waren in ihrem Glauben erlahmt, hatten sich entfernt von Gott, weil ihnen die versprochene Wiederkehr Jesu zu lange dauerte. Gott spielte keine große Rolle mehr in ihrem Leben.

Deshalb geht der unbekannte Verfasser des Hebräerbriefes mit ihnen auch besonders hart ins Gericht.
Er ermahnt sie:  „Gottes Wort ist nach wie vor lebendig  und entlarvt schnell das Böse, das von euch Besitz genommen hat.
Wie ein Schwert wird das Wort Gottes in euch fahren und alles enttarnen.“

Worte, die scheinbar keinen Ausweg lassen! Hart, klar und unmissverständlich!
Vielleicht ist das manchmal einfach nötig!
Vielleicht braucht man manchmal ein klares, offenes und ehrliches Wort, wenn man sich auf dem falschen Weg befindet.

In der Geschichte, die ich Ihnen dazu erzählen will, geht es um einen Vater, ich nenne ihn Thomas. Seine Tochter Maja ist 15 Jahre alt.

Eines Abends trifft sich Thomas mit seinem guten Freund Michael in einem Biergarten. Sie kennen und verstehen sich gut und so geht das Gespräch auch schnell um sehr persönliche Themen.
Bald erzählt Thomas von seiner Tochter. Ein schwieriges Kind, von Anfang an, aber in der letzten Zeit ist es besonders schlimm. Es gibt nur noch Streit, weil sie seine Erwartungen nicht erfüllt, nicht auf ihn hört, nicht im Haushalt hilft und auch in der Schule gewaltig nachgelassen hat. Wenn man sie darauf anspricht, bekommt sie Wutanfälle und läuft weg, beendet Thomas seine Ausführungen.
Michael sieht ihn an: „Und was magst du an deiner Tochter Maja?“
Die Frage versetzt Thomas einen Stich, der ihm durch Mark und Bein fährt. Er fühlt sich ertappt und durchschaut und weiß keine Antwort.
Sein Freund hatte Thomas’ Innerstes nach Außen gekehrt. Er fühlte sich unwohl dabei. Bald verabschieden sich die zwei voneinander.

„Was magst du an deiner Tochter?“ eine Frage, die nicht anklagend, nicht verletzend wirkt und doch fühlt sich Thomas wie auf der Anklagebank. Was war schief gelaufen in der Beziehung zu seiner Tochter, was hatte er falsch gemacht?
Die Frage seines Freundes wirkte in ihm, verfolgte ihn, als wäre sie lebendig, als würde ein Untersuchungsrichter ihn von innen heraus auseinander nehmen.
Die Anklage lautet: Thomas hat keine Liebe zu seiner eigenen Tochter. Er hatte das Geschenk, das ihm mit ihrer Geburt zuteil wurde nicht gewürdigt, hatte alles für selbstverständlich gehalten, nicht an der Beziehung gearbeitet.

Die Erkenntnis lähmte ihn, machte ihn hilflos. „Was magst du an deiner Tochter?“
Worte können einen körperlichen Schmerz verursachen, wie ein Schwert, das uns durchdringt.
Worte haben eine starke Macht, die Positives und Negatives bewirken kann. Sie erreichen nicht nur unser Ohr, sondern wirken tief in unserem Inneren, erreichen unsere Gedanken, unsere Seele, unser Herz.
Worte können lebendig werden in uns, ein Eigenleben entwickeln, dem wir uns nicht mehr entziehen können.

So können auch die Worte Gottes, die Worte der Bibel wirken. Sie können erschrecken, irritieren, uns verwunden und scheinbar zerbrechen, so dass unser Innerstes nach außen gekehrt ist.
Dann sind wir schutzlos, angreifbar, offen aber auch für Gott – wenn wir es zulassen.
Im Predigttext heißt es: Niemand kann sich vor Gott verbergen, nackt und bloß liegt alles offen vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schuldig sind.
Ganz schonungslos, ein bisschen ‚Big Brother’ und natürlich auch  ‚Richter’ und ‚Jüngstes Gericht’ klingen hier durch.

Wie würde es uns dabei gehen, wenn dies das letzte Wort wäre?
Gottes Zorn, seine harten Worte und dann ist alles vorbei?
ER will nichts mehr von uns wissen?

Ich denke, es geht nicht nur mir so, dass manche Worte und Geschichten der Bibel irritierend, ja grausam wirken. Dann hilft es, das Ganze zu sehen! Alle Aussagen und die Wendungen, die sich nach solchen Aussagen manchmal ereignen.

Um wie viel anders klingen die Worte von Gott, der alles sieht und weiß im Psalm 139?

Herr, Du erforschst mich und du kennst mich,
ich sitze oder stehe, so weißt DU es:
Du verstehst meine Gedanken von ferne

… Du siehst alle meine Wege,
es ist kein Wort auf meiner Zunge, dass DU Herr nicht schon wüsstest.

Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir

Wie viel Liebe und Geborgen-Sein bei Gott, spricht aus diesen Worten?!!
Worte können alles! Es kommt darauf an, wie wir sie auffassen und wie wir selbst mit ihnen umgehen.
Gott will uns ja nicht zerstören, auch wenn manche Worte weh tun, wie ein Schwert, so haben sie doch einen Sinn! Denn mit Worten kann man verwunden u n d heilen. Das vergessen wir leicht.

So unterschiedlich diese beiden Bibelstellen auch wirken, die sich um Gott ranken, der alles sieht und weiß, sie bedeuten genau dasselbe.
Gott will unser Innerstes ergründen, uns, wenn es sein muss zerschneiden mit seinem scharfen Wort. Auch wenn das Verletzungen nach sich zieht, dann nur um uns zu heilen, uns wieder näher zu IHM zu führen.

Der Dichter Julien Green sagte einmal die Worte: „Gott zerbrach mir das Herz, aber nur, um hinein zu gelangen!“
Was haben wir denn zu befürchten?
Warum muss ich mich vor Gott verbergen, selbst, wenn ich es könnte? Gott kennt mich, er kennt die Menschen. Er weiß, dass es uns nie gelingen wird ohne Fehler zu sein.

Wenn wir es schaffen würden, ohne Sünde zu sein, wäre Gott nicht in Christus zur Welt gekommen, hätte nicht für uns gelitten, wäre nicht für uns gestorben.
Gott liebt uns wie ein guter Vater oder eine gute Mutter.  Und ein strenges Wort zur rechten Zeit muss manchmal eben sein, das wissen wir alle.

Machen wir uns Sorgen, dass unsere Eltern uns nicht mehr lieben, oder uns gar verstoßen, nur weil mal ein hartes Wort fällt – auch, wenn es vielleicht weh tut im ersten Moment?
Und selbst wenn es bei den Menschen möglich ist, so ist es bei Gott nicht möglich. Er richtet uns nur, um uns aufzurichten.

Wenn er unsere tiefsten Tiefen ergründet und findet im hintersten Winkel nur den kleinsten Funken Glaube oder Liebe, so wird er nicht ruhen und alles zu tun um uns zu heilen, auch wenn es manchmal weh tut.

Und so handeln auch die kommenden Verse und Kapitel des Hebräerbriefes, die nach unserem heutigen Predigtext stehen, von Jesus Christus, der eben dafür gestorben ist, dass es trotz all unserer Fehler, Schuld und Sünde immer wieder möglich ist, neu anzufangen.
Bei Ihm sind auch unsere geheimsten Gedanken und Regungen gut aufgehoben. Ihm können wir uns immer anvertrauen, er wird immer zu uns stehen!

Alles was wir dafür aufbringen müssen ist, an Ihn zu glauben. Und selbst wenn uns das nicht so gelingt, wie wir es gerne hätten, müssen wir uns nur auf den Weg machen, er kommt uns entgegen.

Wir sollen Gott fürchten und lieben, aber uns nicht vor Ihm fürchten. Das ist die ‚Rechenschaft’ die wir Ihm schuldig sind!
Wenn Gott mit seinem scharfen Schwert in unser Herz fährt, alles bloß legt und dort ein bisschen Liebe und unseren Willen findet, alles zum Guten zu wenden, dann wird uns seine Gnade zuteil.
Dann können wir immer wieder neu anfangen.

Kehren wir noch einmal zurück zu Thomas, seiner Tochter Maja und seinem Freund Michael.
Wie ein Schwert waren Thomas die Worte seines Freundes ins Herz gefahren: “Was magst du an deiner Tochter?“
Sie haben seine Schuld bloß gelegt und ihn zum Nachdenken gebracht. Wie muss es seiner Tochter gehen, die sich nicht geliebt fühlt. Er hatte die Beziehung gestört, kein Vertrauen in sie aufgebracht. Sein Freund hatte das wohl gleich erkannt.
Er war immer noch voll Scham, als es ein paar Tage später an der Tür klingelte, Michael vor der Tür stand und ihn freundlich ansah. Thomas war erleichtert, da stand nicht der strenge Richter, der ihn aburteilte, da stand der Freund, der ihm seine Hilfe anbot.
„Thomas, du kannst neu anfangen, es ist sicher nicht zu spät! Deine Tochter braucht dich. Es könnte Spuren in ihrem  Leben hinterlassen, die nicht wieder gut zu machen sind, wenn sie nicht deine Liebe und dein Vertrauen  erfährt.“ Auch diese Worte erreichten Thomas Herz wie ein Stich, aber gleichzeitig spürte er, dass es sich diesmal richtig anfühlte.  

Amen