Guter Hirte - schlechte Hirten

Predigt zu Ez 34 in Auszügen und Luther auf dem Wormser Reichstag 1521 von Pfr. Stefan Reichenbacher am 18.04.2021

Liebe Gemeinde!

Das Evangelium hat uns auf den Guten Hirten Jesus verwiesen, der sein Leben lässt für die Schafe. (vgl. Johannes 10)

Der Predigttext nun lenkt unseren Blick auf schlechte, menschliche Hirten, nämlich auf die Priester und die Vornehmen Israels zur Zeit des babylonischen Exils. Sie werden vom Propheten Ezechiel angeklagt, weil sie nur an sich denken und nicht an ihre Schutzbefohlenen. Aber Ezechiel kündigt an, dass Gott höchstpersönlich sie ersetzen wird und selbst als Guter Hirte für die Seinen sorgen will.

Ich lese in Auszügen aus dem 34. Kapitel des Ezechielbuchs, auch Hesekiel genannt:
1Und des Herrn Wort geschah zu mir: 2Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr:

Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
10So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.
11Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. 12Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. 13Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. 14Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. 15Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. 16Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.
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Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.

Also ich bin ja immer etwas irritiert und auch ein wenig amüsiert, wenn ich als Pfarrer auf meine „Schäfchen“ angesprochen werde, so nett das klingt und so nett das sicherlich gemeint ist. Ich bin zwar schon bereit, als Pfarrer eine gewisse Hirtenfunktion in meiner Gemein­de zu übernehmen und mich verantwortlich zu fühlen – aber Hirte sein? Nach Möglichkeit ein guter Hirte sein und das auch noch alleine als Einzelner? Das ist schon ein sehr starkes Bild und eine allzu große Aufgabe!
Ich bin froh, dass wir in Reutti eher ein Hirtenteam – so empfinde ich es jedenfalls. Wir nehmen als Kirchenvorstand unsere Verantwortung für das Gemein­de­­­leben als Team miteinander wahr.
Aber klar – der Pfarrer hat schon auch alleine bestimmte Hirtenaufgaben – wären wir eine Gemeinde in Norddeutschland wäre ich der „Herr Pastor“ und Pastor heißt auf Deutsch ganz einfach „Hirte“.

Wenn wir nun zurückblicken auf das Wirken von Pfarrern und Pastoren, seit 50 Jahren auch auf das von Pfarrerinnen und Pastorinnen, dann werden wir immer Beispiele finden, in denen diese Hirten und Hirtinnen gute Arbeit geleistet haben. Aber wir werden auch negative Beispiele finden.
Ich freue mich z.B. sehr, dass mein Vorvorgänger Pfr. Meier offensichtlich in so guter Erinnerung ist, dass vom Vereinsring vorgeschlagen wurde, die Straße im neuen Baugebiet gegenüber des Kinderhauses „Pfarrer-Meier-Weg“ zu benennen.
Die Schlagzeilen beherrschen jedoch meist Beispiele von kirchlichen Hirten, die sich verfehlt haben, die Skandale produziert haben und schwere Schuld auf sich geladen haben, z.B. im Bereich von Missbrauch von Schutzbefohlenen.

In unserem Predigttext spricht der Prophet Ezechiel von den schlechten Hirten Israels. Das sind damals natürlich die leitenden Priester am Tempel in Jerusalem, aber auch die Könige, es sind also die geistlichen und die weltlichen Führer des Volkes. Beide haben versagt. Und durch ihr Versagen haben sie zu verantworten, dass das Volk von Babyloniern besiegt wurde und die Oberschicht in die Verbannung nach Babylon geführt wurde.
Schauen wir heute auf unsere Verantwortungsträger im Staat, dann würde uns wahrscheinlich nicht einfallen, sie als Hirten zu bezeichnen. Angela Merkel als Hirtin oder Markus Söder als Hirte? Na, ich weiß nicht.

Auf der anderen Seite erleben wir natürlich mindestens seit der Coronakrise, dass unsere Obersten in der Politik sehr viel stärker also sonst unser Leben bestimmen und dabei auf jeden Fall „Gute Hirten“ sein wollen. Parlamente haben erst seit wenigen Tagen etwas mitzureden, davor haben die Oberhirten, nämlich die Ministerpräsidenten und –präsidentinnen mit der Kanzlerin alleine entschieden.
Ob sie dabei tatsächlich gute Hirten und Hirtinnen waren und sind, wird sich erst aus dem Rückblick beurteilen lassen. Hinterher ist man bekanntlich immer klüger.

Das Bild vom Hirten, vom hoffentlich „Guten Hirten“ ist also bis in die Gegenwart durchaus tauglich, um auszudrücken, wie wir Regierung oder auch Leitung erleben können. Und wir Bürger und Bürgerinnen sind zurzeit schon wie Schafe, die kaum eine andere Wahl haben als hinterher zu trotten. Wenn wir´s nicht tun, werden wir auch nicht von einem Guten Hirten gesucht und freundlich auf den rechten Weg gebracht, sondern müssen eher mit Bestrafung rechnen…
Ich für meinen Teil hab auch deshalb meine Vorbehalte gegenüber allzu mächtigen und allein entscheidenden Hirten. Ich hab lieber ein Hirtenteam so wie unseren Kirchenvorstand. Und ich möchte auch nicht einfach Schafe haben, die kritiklos dem Hirten hinterher laufen, sondern freue mich über Schafe, die eigene Ideen haben, wo etwas Leckeres zu finden ist oder wo es einen besseren Weg gibt. Schön, wenn es gelingt, als Hirte oder Hirtenteam mit den Schafen gut im Gespräch zu sein. Im politischen Zusammenhang nennt man das Demokratie.

Als Martin Luther lebte, was das Bild vom Hirten noch sehr viel stärker als heute als Bild für Leitung und Regierung im Bewusstsein verankert. Und ähnlich wie im alten Israel waren die religiösen Hirten und die weltlichen Hirten stark miteinander verbunden – manchmal in Einigkeit, oft aber auch in Rivalität. Zu Luthers Zeiten waren das der Papst und seine Bischöfe auf der einen Seite und auf der anderen der Kaiser und seine Fürsten, ins­besondere die Kurfürsten.

Martin Luther erlebte seine Hirten höchst unterschiedlich:
Da war auf der einen Seite sein Abt Johannes Staupitz, der ihm ein echter geistlicher Vater und Hirte war und seine geistlich-theologische Entwicklung intensiv beeinflusste und begleitete.
Auf der anderen Seite musste er erleben, wie sein Bischof und der Papst ihn mit ihrer Amtsautorität niederdrücken und mundtot machen wollten.

Nicht anders erging es Luther mit der weltlichen Obrigkeit: Zuhause war er der Lieblingsprofessor des sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen an der neu gegründeten Universität Wittenberg. Luther bescherte der Universität unzählige Studenten aus ganz Europa: Alle wollten den Mönch Martin Luther und seine neue Art, die Bibel auszulegen, hören. Sie brachten Geld und Prestige für Wittenberg und der Kurfürst war höchst zufrieden und machte sich zum mächtigen Schutzherr Luthers.
Auf der anderen Seite Kaiser Karl V.: Der erkannte sehr früh, dass er eine geeinte Kirche brauchte, die sein riesiges Reich mit einer Art geistlichem Klebstoff verband. Er war Kaiser von halb Europa und der neu entdeckten Länder in Amerika – eine Spaltung in Altgläubige und Luther-Anhänger wollte er unter allen Umständen vermeiden. Sein Motto war: Ein Kaiser, ein Reich, eine Religion!

Martin Luther verstand nicht viel von Politik. Und die Zusammenhänge, die wir heute aus dem Rückblick sehen können, konnte er nicht überschauen. Er verstand nur, dass er zuerst eine Vorladung des Papstes nach Augsburg zum Kardinal Cajetan bekam und kurz darauf eine ebensolche nach Worms auf den Reichstag mit dem Kaiser an der Spitze.
Beide Male glaubte Luther, er dürfe mit diesen Oberhirten diskutieren – bzw. disputieren wie das damals noch hieß. Er dachte, er dürfte begründen, warum er Manches anders sah und glaubte als es die offizielle Lehrmeinung der Kirche war. Er dachte, dass die Heilige Schrift die Grundlage des christlichen Glaubens wäre. Und er dachte, dass es darauf ankäme, theologische Aussagen mit der Hl. Schrift zu begründen. Und er dachte, dass seine Gegner das ebenso tun müssten und dann eben der gewinnen würde, der die besseren Argumente hätte.
Doch dem war nicht so. Die Oberhirten argumentierten mit ihrer Macht, mit der Tradition, mit der Gewohnheit. Sie waren sich viel zu fein, um mit einem Mönchlein aus Wittenberg, wie er von den Hohen Herren verspottet wurde, zu streiten.

Aus Augsburg konnte Martin Luther nur dank der Hilfe seines Abtes Staupitz fliehen. Sonst wäre er nach Rom abgeführt und auf einem Scheiterhaufen als Irrlehrer, als Ketzer verbrannt worden.
Drei Jahre später wurde er vom Kaiser nach Worms geladen. Auf den Tag genau heute vor exakt 500 Jahren war der 2. Tag des Verhörs, an dem Luther seine berühmte Antwort gab. Auf die alles entscheidende Frage, ob er widerrufen würde, was er gepredigt und in seinen Schriften verbreitet habe, antwortet Luther:

 „… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“

Der Kaiser entgegnete daraufhin:
„… Denn es ist sicher, dass ein einzelner Mönch in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit, wie sie seit mehr als tausend Jahren gelehrt wird, steht. Deshalb bin ich fest entschlossen, an diese Sache meine Reiche und Herrschaften, meinen Leib, mein Blut und meine Seele zu setzen.“

Was damals passierte, lässt sich gar nicht überschätzen:
Martin Luther argumentierte qualitativ: Er berief sich auf die Vernunft, auf sein individuelles Gewissen und auf die Heilige Schrift als Maßstab aller Theologie. Das war etwas völlig Neues!
Karl V. dagegen argumentierte quantitativ: Weil alle Hirten seit mehr als tausend Jahren bisher immer anders gelehrt haben, müsse der einzelne Mönch aus Wittenberg Unrecht haben. Auf schwäbisch: Des war scho immer so, des bleibt au so!

In diesem Moment, also am 18. April 1521, war die Epoche des ausgehenden Mittelalters beendet und die Neuzeit begann: Die nachprüfbare Schrift, die menschliche Vernunft und das persönliche Gewissen wurden von nun an zu Messlatten, an denen auch die Oberhirten nicht mehr vorbeikamen. Bloße Tradition und Gewohnheiten und Autoritäten reichten nicht mehr aus, um etwas zu begründen. Auch wenn der Kaiser die Protestanten um Luther, wie sie bald genannt wurden, anfangs zurückdrängen konnte, verlor er am Ende den Kampf. Der Siegeszug der Vernunft und des Gewissens begann. Und Luther wurde zu einem der wichtigsten Deutschen und Europäer in der Geschichte überhaupt.
Hirten werden seither durch die Vernunft und das Gewissen und auch durch die Bibelkenntnis der Schafe überprüft. Das sog. Allgemeine Priestertum der Laien wurde in der evangelischen Kirche eingeführt.
Im weltlichen Bereich dauerte länger, bis Demokratie und Parlamente den weltlichen Führern und Hirten auf die Finger sahen und es gab und gibt da immer wieder schlimme Rückschritte.

Auch in der Kirche gab und gibt es immer wieder Beispiele dafür, dass die Hirten ihr Amt nicht so ausführen wie es Gott gedacht hatte und auch nicht so wie es dem biblischen Zeugnis, der Vernunft und dem Gewissen der Einzelnen entspricht.

Deshalb gilt letztlich auch heute noch, was Ezechiel damals verheißt: Gott selbst will der Gute Hirte sein für die Seinen, weil die menschlichen Hirten immer wieder versagen. Nur er ist in der Lage, wirklich immer zu frischem Wasser und zu grünen Auen zu führen. Menschliche Hirten verheddern sich da allzu leicht in ihre eigenen Wünsche und Überzeugungen und führen die Schafe in die Irre.

Vielleicht ist eine Lösung, dass die Hirten von heute sich selbst auch immer wieder als Schafe sehen sollten, als Schafe, die selbst auf den Guten Hirten schauen müssen, um zu erkennen, wohin sie die Herde führen sollen. Bei Priestern, Pfarrerinnen und Pastoren und bei Kirchenvorständen sollte das selbstverständlich sein. Bei Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik können wir es uns nur wünschen.

Amen.