Hier stehe ich, ich kann - was ändern!

Gottesdienst zum Reformationsfest 2021 zum Brief des Paulus an die Galater 5,1-6 von Lektor Paul-Leon Meisel

 

Liebe Brüder und Schwestern,

 

Am Reformationstag denken wir Lutheraner an unsere Anfänge.
An Martin Luther, der an diesem 31. Oktober seine 95 Thesen an die Türe der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll.

Dass das wirklich passiert ist, ist wohl eher Legende – sei’s drum.

Entscheidend ist das, worum es hinter dieser Geschichte geht.
Um einen mutigen Mönch, der sich getraut hat, seine Gedanken zu teilen.
Mehr noch: sie zur Diskussion zu stellen.

Er war so frei.
Frei, weil er sich seiner Sache so sicher war.
Frei, weil Christus zur Freiheit befreit.
Das Studium der Heiligen Schrift hatte ihm die Augen geöffnet.
Ihm die Missstände in Kirche und Gesellschaft bewusst gemacht.

Später wird er diese Missstände gegen das Evangelium wieder und wieder anprangern und zur Sprache bringen.
Wird mutig bekennen und will Veränderung.
Rückbesinnung auf die wirklichen Inhalte des Evangeliums – der frohen Botschaft.
Bis hin zu seinem berühmten:
„Hier stehe ich – ich kann nicht anders.“

Einen zentralen Text für seine „Erleuchtung“ bildet der Galaterbrief des Apostels Paulus.
Luther selbst sagte: „Dies Epistel an die Galater ist mein Epistel, der ich mich vertraut habe, meine Käthe von Bora

Unser Predigttext für den Gedenktag der Reformation befindet sich in eben dieser Epistel.
Ich lese aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen.
Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.
Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen.
Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen.
Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Brüder und Schwestern,
harte Worte sind es, die der Apostel hier findet.

Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen.

Deshalb will ich sie in die damalige Situation einordnen:
In den Gemeinden in Galatien, an die dieser Brief gerichtet ist und die Paulus einst selbst gegründet hatte, wirken nun andere Prediger.
Aber als wäre das nicht schlimm genug, verkünden sie auch noch eine Botschaft, die ganz anders ist als die des Paulus.
Sie fordern die Einhaltung der jüdischen Gesetze.
Sie fordern, dass sich die Männer beschneiden lassen – wie im Judentum üblich.
Und am allerschlimmsten: sie scheinen darin den Weg zum Heil zu sehen.

Auf diese Situation reagiert Paulus in seinem Brief.
Prangert Missstände an – will Veränderung.
Rückbesinnung auf die Werte seines Evangeliums – der frohen Botschaft.

„Hier stehe ich – ich kann nicht anders.“

Mit uns scheint es auf den ersten Blick nichts zu tun zu haben.
Die Beschneidung als religiöses Ritual wird bei uns nicht mehr praktiziert.
Paulus Ermahnungen hätten dann für uns keine Bedeutung.

Aber so einfach ist es leider nicht.
Denn die Beschneidung ist für Paulus nur ein Symptom eines größeren Problems:
„Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt.“
Das nämlich ist der wunde Punkt.
Das Gesetz zu befolgen ist nicht das Problem.

Das Problem liegt darin, hierauf seine Hoffnung zu setzen.
Zu denken, dass es schon genügt, sich an alle Regeln zu halten.

Zurück zu Martin Luther, der Paulus‘ Zeilen 1500 Jahre später gelesen hat.
Zurück in die Zeit einer Kirche, in der das blinde Einhalten von Regeln der Schlüssel zum Himmelreich war.

In eine Zeit, in der die einzige Möglichkeit, einen Regelverstoß ungeschehen zu machen, das Kaufen eines Ablassbriefes war.
Martin Luther beschrieb diesen Zustand der Kirche später als „babylonische Gefangenschaft“.
Und in dieser Zeit studiert er Paulus´ Brief.
Diesen Brief, der ihm die Augen öffnet.
Diesen Brief, der ihn mit dazu ermutigt die Missstände seiner Zeit anzuprangern.
 

Nicht das Einhalten von Regeln und Geboten sind der Weg zu Gott.
Nicht das verzweifelte Freikaufen von Schuld.
Sondern allein der Glaube.
Gewirkt allein durch die Gnade Gottes.
Wie befreiend muss das auf ihn gewirkt haben.
Die wahre frohe und freimachende Botschaft des Evangeliums.

„Hier stehe ich – ich kann nicht anders.“

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Wir stehen wiederum 500 Jahre nach Martin Luthers Entdeckung.
Freiheit scheint für uns heute selbstverständlich.
Wir genießen Reisefreiheit.
Bekennen uns zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Erfreuen uns an Religionsfreiheit.
Leben und lieben die Meinungsfreiheit – auch wenn sie uns oft auf eine harte Probe stellt.
Freiheit scheint ein allgegenwärtiges Thema zu sein – gerade in den letzten Monaten viel diskutiert.

Aber doch sind die Worte des Apostels aktuell wie selten zuvor.
Unsere Joche der Knechtschaft sind selten religiöser oder politischer Natur.
Unsere Joche der Knechtschaft sind aber doch drückend.
Eine Gesellschaft im Optimierungswahn.
Schneller, höher, weiter, besser.
Schönheitsideale.
Arbeitswahn.
Darin suchen wir unser Heil.
Darin suchen wir, das „Gesetz“ zu erfüllen, das von außen auf unsere Schultern gelegt wird.
Schwer.
Unbarmherzig.
Drückend - Erdrückend.

Liebe Brüder und Schwestern,
„zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ sind die Worte, die in Martin Luther etwas bewegt haben.
Frei von äußeren Zwängen.
Frei zu tun und zu lassen, was immer wir wollen – mit allen Konsequenzen.
Das ist das Geschenk, das Gott an uns gemacht hat.

Gott schenkt Freiheit, seine größte Gabe.
Dass Martin Luther diese Freiheit entdeckt war, war für seine Zeit eine Revolution.
Und auch uns erinnert dieser Festtag immer wieder neu daran, zu welcher Freiheit wir berufen sind.
Und darin erinnert er uns auch immer wieder daran, was die wahre Botschaft des Evangeliums ist.
Dass wir nichts tun brauchen, um vor Gott gerecht zu sein – außer zu glauben.

Und vielleicht erkennen auch wir dann Missstände.
Entdecken, was in unserer Kirche und unserer Gesellschaft nicht gut läuft.
Was vielleicht nicht „evangelisch“ ist, also nicht dem Evangelium entspricht.
Gott hat uns frei gemacht – Martin Luther ist uns ein Vorbild in Sachen Mut.
Mit ihm können wir Missstände anprangern, bekennen und eine nie endende Reformation der Kirche einfordern und vorantreiben.

Hier stehe ich, ich kann – was ändern.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren.

Amen.