Judas - Verräter oder tragischer Held?

Predigt zu Johannes 13,21-30 Invocavit 2021 von Pfr. Stefan Reichenbacher

 

Liebe Gemeinde!

 

Kennen Sie das?

Von manchen Menschen hat man ein Bild, das man im Laufe des Lebens gründlich korrigieren muss. Der Mensch ist gar nicht so wie gedacht. Ein scheinbar böser Mensch hat in Wahrheit viele gute Seiten und der scheinbar so nette freundliche ist in Wahrheit ein Wolf im Schafspelz…

So geht es mir mit dem Jünger Judas Iskariot. Ich hab ihn früher immer für den Bösen, für den Verräter gehalten – aber möglicherweise ist diese Sicht falsch. Eines gleich vorweg: Die 30 Silberlinge waren wohl etwa so viel wert wie ein durchschnittliches Monatsgehalt – also nicht gerade wenig Geld, aber genug, um einen Freund, einen verehrten und geliebten Lehrer zu verraten?

Ich denke, es spricht viel dafür, dass Judas Jesus nicht aus eigenem Antrieb oder gar aus Geldgier verraten hat, sondern aus einem ganz anderen Grund. Dazu muss ich ein bisschen ausholen.

Harry Potter – Fans unter Ihnen und euch kennen vielleicht das Verhältnis zwischen Harry Potter und Severus Snape. Sein ganzes Schulleben lang hält Harry diesen Lehrer für seinen schlimmsten Feind. Der furchtbarste Moment nun ist für Harry, wie er hilflos zusehen muss, wie Severus Snape seinen geliebten Direktor Albus Dumbledore umbringt. Und der sagt als letzte Worte zu Snape: Bitte, Severus, bitte! Harry glaubt natürlich, er würde um sein Leben flehen – doch in Wahrheit will Dumbledore, dass Snape nicht weich wird und ihn wirklich tötet. Denn nur durch seinen Tod kann Dumbledore Harry helfen, den bösen Lord Voldemort ein für alle Mal zu besiegen. Das erkennt Harry Potter aber erst viel später, als Snape in seinen Armen stirbt und ihm Anteil an seinen Erinnerungen schenkt.

Also: Nicht immer ist der erste Eindruck der richtige und manchmal muss man nach Jahren sein Bild über einen Menschen korrigieren.

Um es Ihnen zu erleichtern, das Bild von Judas Iskariot zu korrigieren, möchte ich Ihnen nun eine Vorgeschichte des letzten Abendmahls erzählen. Sie steht nicht in der Bibel. Ich hab sie mir ausgedacht. Aber ich meine, sie könnte so ähnlich abgelaufen sein. Und dann sehen Sie die Erzählung vom angeblichen Verrat des Judas wahrscheinlich in einem ganz anderen Licht…

Ich erzähle Ihnen nun meine Vorgeschichte und gehe dann unmerklich in den biblischen Text über, wie er im 13. Kapitel des Johannesevangeliums zu lesen ist…

Eines Abends saß Jesus mit seinen Jüngern beim Mahl. Und er sprach zu ihnen: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Ebenso werde auch ich sterben müssen, um Frucht zu bringen. Da erschraken die Jünger, aber keiner wagte, etwas zu sagen.

Jesus sprach weiter: Ich muss überantwortet werden an die Kinder der Finsternis, die das Licht nicht sehen wollen. So werde ich erhöht werden und kann alle zu mir ziehen, denn das ist der Wille des Vaters. Der Vater und ich aber sind eins. Doch die Welt kann das Licht nicht überwinden am Tag – sie braucht dazu die Nacht und sie braucht einen Helfer – einen von euch, ein Kind des Lichts. Einer von euch muss ihnen sagen, wo sie mich heimlich gefangen nehmen können, ohne dass es das Volk merkt und in Aufruhr gerät. Denn nur wenn ich gefangen und getötet werde, kann ich den Willen des Vaters tun und die Welt retten, denn dazu bin ich in die Welt gekommen.

Da entsetzten sich die Jünger noch mehr und sagten zueinander. Wer von uns sollte dazu imstande sein? Und Petrus flüsterte dem Jünger, den Jesus liebte, zu: Sag ihm, dass keiner von uns imstande ist, solche einen Frevel zu begehen und ihn zu verraten. Lieber wollen wir alle kämpfen für ihn! Jesus hörte diese Worte und sprach zu Petrus: Weiche von mir Satan! Denn was du meinst, Petrus, ist nicht göttlich, sondern menschlich!

Dann sprach er zu allen: Ihr seid meine Freunde. Und niemand hat größere Liebe als der, der für seine Freunde stirbt. Meine Stunde ist nun gekommen und die Finsternis regiert.

Ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s? Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! […] Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte. Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte. Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.

Soweit nun meine Vorgeschichte und der Predigttext. - Der Herr segne unser Reden und Hören! -

Haben sie gemerkt, was von mir war und was von Johannes? Ich hab es Ihnen schwer gemacht, weil ich in meine Vorgeschichte lauter Sätze und Gedanken aus dem Johannesevangelium eingebaut habe, so dass sie nach „Original-Johannes“ klang.

Einen Satz des Johannes hab ich allerdings weggelassen. Es ist ein Satz, mit dem Johannes und die frühen Christen sich den Verrat des Judas erklärten. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass so etwas Schreckliches wie der Verrat an Jesus von einem Freund, von einem Schüler Jesu begangen worden sein könnte. Und wenn doch, dann nur, weil der Satan von ihm Besitz ergriffen habe. Und so fügt Johannes eine – zu seiner Zeit sicher gängige - Interpretation des Geschehens ein und erzählt: 27Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.

Nein, liebe Gemeinde, nein. Wie bitte hätte Jesus denn die Welt erlösen sollen, wenn er nicht ans Kreuz geschlagen worden wäre? Wie hätte er die Schuld der Welt auf sich nehmen können, wenn er nicht unschuldig gestorben wäre? Wie hätten die Soldaten die Verhaftung Jesu heimlich bewerkstelligen sollen, wenn ihnen nicht ein Eingeweihter den entscheidenden Tipp für Jesu Aufenthalt gegeben hätte?

Der Versuch des Petrus, Jesus von seiner Bereitschaft, sich töten zu lassen, abzuhalten, findet sich bei Johannes nicht. Den Gedanken hab ich mir von Matthäus ausgeliehen, auch Lukas kennt ihn. Tatsächlich sieht Jesus den Satan am Werk, als Petrus ihn laut Matthäusevangelium davon abhalten will, sich freiwillig den Behörden auszuliefern.

In unserer Darstellung des Verrats aber sollte der Satan wiederum am Werk sein, wenn Judas genau das tut, was Jesus möchte, nämlich den Behörden hilft, ihn gefangen zu nehmen? Das ist nicht nachvollziehbar. Und deshalb behaupte ich freimütig, dass der Satz „Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.“ eine Interpretation des Johannes ist, der ich nicht folgen kann und möchte.

Neuere theologische Theorien vermuten außerdem, dass Judas vielleicht sogar engste Vertraute Jesu war. Dazu kommt, dass er ein Zelot war, also einer, der vor der Bekanntschaft mit dem friedliebenden Jesus mit Waffengewalt gegen die Römer kämpfte. Von daher ist er mental wohl am ehesten in der Lage, diesen scheinbaren Verrat im Auftrag Jesu zu begehen.

Im Auftrag Jesu? Ja, im Auftrag Jesu. Johannes überliefert von Jesus nur die dürren Worte: „Was du tust, das tue bald.“ Aber das kann so oder so verstanden werden – genau wie in der vorhin geschilderten Szene mit Harry Potter.

Jahrhundertelang wurde dieses „Was du tust, das tue bald.“ so verstanden, dass Jesus sich in sein Schicksal fügt, das der Satan ihm durch Judas bereitet. Ich denke aber, es bedeutet: Was du tun sollst, was wir besprochen haben, mach es jetzt. Geh endlich!“

Dieselbe Szenerie kriegt dadurch plötzlich ein ganz anderes Gesicht. Aus dem angeblich vom Satan besessenen Verräter wird ein Jünger, der einen extrem schweren Auftrag seines Herrn erfüllt. Das Tragische: Judas zerbricht schließlich an diesem Auftrag und kann sich sein eigenes Tun nicht verzeihen, obwohl er genau damit die Heilsgeschichte in Gang gesetzt hat!

Man könnte fragen, ob nicht da erst der Satan in ihn gefahren ist, der Satan, der ihm einredet, er hätte schuld am Tod seines Herrn, er hätte ihn doch nicht verraten dürfen und dass ihm diese Schuld von Gott niemals würde verziehen werden können. Das nämlich ist das Werk des Satans, dass er uns an der Barmherzigkeit Gottes zweifeln lässt, dass er uns die Gebote, die wir nicht vollkommen halten konnten, vorhält und der uns ein schlechtes Gewissen macht.

„Sündige tapfer, doch tapferer glaube und freue dich in Christus, der Herr ist über Sünde, Tod und Teufel.“ So schrieb Martin Luther einmal an Philipp Melanchthon. Damit will Luther sagen: Wir werden es nie schaffen, ganz ohne Sünde zu leben, auch wenn wir uns natürlich bemühen sollen. Entscheidend ist aber nicht unsere Sünde, sondern der Glaube daran, dass Gott barmherzig und sein Sohn für uns am Kreuz gestorben ist!

Und damit sind wir wieder bei Judas: Ohne Judas keine Gefangennahme Jesu, ohne Gefangennahme keine Kreuzigung, ohne Kreuzigung keine Erlösung und keine Auferstehung, ohne Auferstehung keine Hoffnung für die Welt, keine Überwindung des Todes, kein Sieg über die Sünde und das Böse!

Judas ist also gewissermaßen ein tragischer Anti-Held der Heilsgeschichte. Der, ohne den es nicht geht, der dafür aber nicht gelobt, nicht verehrt, sondern sogar verdammt wurde.

Ich denke, das gibt´s bis heute. Menschen, die das Richtige tun – oder auch das Richtige sagen – aber dafür gehasst und verdammt werden. Die anderen Jünger, die den schweren Auftrag Jesu nicht erfüllen konnten, stehen dagegen für die Masse, für die, die so denken und reden wie eben alle denken und reden. Judas dagegen steht für die Menschen, die eigenständig denken und reden, die gegen den Strom schwimmen, wenn es drauf ankommt, die sich was trauen, die was riskieren, weil sie von der Richtigkeit und Wahrheit ihres Tuns überzeugt sind. Manchmal erfahren sie im Nachhinein in der Öffentlichkeit eine gewisse Wiedergutmachung, werden rehabilitiert, manchmal aber auch nicht.

Heute am Sonntag Invocavit geht es das Thema Versuchung. Hier beim Verrat des Judas möchte ich behaupten, dass der Versucher wohl weniger in Judas oder bei seinem Handeln zu suchen ist als bei denen, die ihn später verdammt haben. Es ist so leicht, über einem Menschen den Stab zu brechen. Es ist so leicht, im Nachhinein zu sagen, was ein anderer angeblich oder tatsächlich falsch gemacht hat.

Deshalb möchte ich behaupten, die Versuchung liegt genau darin – in allem Besserwisserischen, in allem Verurteilen oder gar Verdammen von Menschen, die nicht so handeln wie „man“ es für richtig hält. Und: Die andere, noch größere Versuchung ist, Gott nicht jede Barmherzigkeit zuzutrauen – auch gegenüber Judas, selbst wenn er wirklich aus ganz niederen Gründen seinen Herrn verraten haben sollte.

Im Mittelalter konnte man sich eine solch große Barmherzigkeit Gottes nur schwerlich vorstellen. Umso bemerkenswerter ist, dass in der romanischen Kathedrale von Vézelay im Burgund eine bemerkenswerte Darstellung zu finden ist.

 

Foto: Bildmeditation von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

Das Kapitell ist der Abschluss einer Säule und in romanischen Kirchen oft kunstvoll mit Ornamenten oder aber auch mit Figuren verziert. Hier ist links Judas dargestellt, der sich erhängt hat. Daneben ist Jesus als Guter Hirte gezeigt, der sich den toten Judas wie das Verlorene Schaf um die Schultern legt. Ein wunderbares Beispiel für die Barmherzigkeit Gottes, für die Gnade des Guten Hirten, der jedes verlorene Schaf und jeden verlorenen Menschen sucht und nach Hause trägt.

Selbst in einer Zeit, in der Judas als der Böse und vom Satan Besessene galt, hat ein Bildhauer die Größe und Weite der Barmherzigkeit Gottes geglaubt und dargestellt.

Wie recht hatte er doch, können wir mit dem heutigen Blick auf Judas nur sagen! Natürlich wird Jesus seinen Jünger und Freund, der an seinem schweren Auftrag zerbrochen ist, aufrichten. Er wird ihn im wahrsten Sinn des Wortes nicht hängen lassen, sondern ihn in sein himmlisches Zuhause tragen, wo auch für ihn eine Wohnung bereitstehen wird.                          

Amen.