Predigt zum 1. Advent von Pfr. Stefan Reichenbacher

Liebe Gemeinde!

 

Kleine Kinder haben uns manchmal etwas voraus. Manche kleinen Kinder können sich auf das Wesentliche konzen­trieren - und lassen sich durch nichts davon ab­bringen.

Ein Kollege erzählte mir einmal von seinem kleinen Sohn. Dem wollten die Eltern die Advents- und Weihnachtszeit durch Geschichten und Bilder­bücher nahe bringen – so wie das christlich eingestellte Eltern eben tun.

Aber der Junge wollte immer nur das eine Buch, das Buch mit der Weihnachts­geschichte, und daraus die beiden Seiten mit den Hirten und dem Engel: Zuerst die Seite mit den Hirten und ihren aufgerissenen Augen und Mündern.

Der Text dazu: „Die Hirten hatten große Angst.“ Und dann die andere Seite: Der Engel, der beruhigend die Hand hebt und sagt: „Habt keine Angst“. Diese beiden Seiten - „Sie hatten große Angst“ und „Habt keine Angst“ - diese beiden Seiten wollte der Kleine immer wieder vorgelesen bekommen.

 

Alles andere von der Geschichte oder gar andere weih­­nachtliche Bücher interessierten ihn nur mäßig. Und die Eltern begannen zu verstehen: Hier auf diesen zwei Seiten mit den Hirten und dem Engel, da hatte ihr Kind einen Ort für seine Angst gefunden.

Es hört den Engel auch für sich sagen: „Hab keine Angst!“ Da wird für den Jungen Weihnachten. Die Krippe und das Jesuskind, Maria und Josef sind für ihn nicht so wichtig wie die beiden Seiten: „Sie hatten große Angst“ und „Habt keine Angst“! Nur das zählt, alles andere ist zweitrangig.

 

Es ist Advent – wir warten auf den, der da kommen wird und der die Welt heller macht. Und der sagt: Habt keine Angst!

Jedes Jahr warten wir auf ihn – dieses Jahr warten wir auf ihn vielleicht ganz besonders. Denn mit dem Corona-Virus geht eine Angst um, die wir in dieser Weise nicht gekannt haben – eine Angst, die die Menschen ergreift, eine Angst, die unsere Politiker zu Maßnahmen ergreifen lassen, die wir früher nicht für möglich gehalten hätten.

 

Hören wir eine alte Weissagung eines Propheten, der heute weitgehend unbekannt ist, von dem wir aber einige Worte sehr gut kennen: Er heißt Sacharja und einige seiner Worte haben wir im Lied „Tochter Zion“ gerade gesungen:

Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze!

Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.  Denn ich will die Wagen wegtun aus Ephraim und die Rosse aus Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.

Sacharja 9,9-10

 

Sacharja ist ein Prophet, der um 518 vor Christus wirkt. Zwanzig Jahre zuvor durften die verbannten Juden durften aus Babylon in die Heimat zurückkehren und die Stadt Jerusalem wieder aufbauen. Doch die Rückkehrer haben kaum Hoffnung, ihnen fehlt der lange Atem für ein solch großes Projekt. Es fehlt ihnen die Kraft, der Mut, der Glaube – obwohl sie sich alle noch das Wunder Rückkehr aus der Gefangenschaft erinnern.

Aber die, die ja jetzt Jerusalem aufbauen sollen, die kannten es gar nicht von früher, sie waren in der Verbannung geboren. Ihre Großeltern und Urgroß­eltern waren es, die hier einst gelebt und die Zerstörung der Stadt und die Deportation erleben mussten. Diese Enkel- und Urenkelgeneration tut sich deshalb schwer, die rechte Begeisterung für den Wiederaufbau der Stadt zu finden. Sie sehen nur die Zerstörung, die Arbeit, die Mühsal.

Durchhalteparolen gerade jetzt in der Adventszeit – wir hören und lesen sie täglich. Von einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung ist da die Rede…

Aber hilft das?

 

Wenn wir die Adventszeit liturgisch betrachten, dann könnten wir fast sagen: Eigentlich, eigentlich bringt uns die Corona-Krise wieder näher an den Ursprung dieser Zeit heran.

Die Adventszeit wird in der Kirche als Vorbereitungszeit, ja sogar als Bußzeit gefeiert:

Der Mensch ist eingeladen, sich zu besinnen, sein Leben zu überdenken, einzusehen, wo und wann er auf dem falschen Weg war, sich Zeit nehmen für Stille, Andacht und Gebet – zum Beispiel im Licht des Adventskranzes oder eben im Gottesdienst.

Vielleicht gelingt uns das in dieser besonderen Adventszeit besser als sonst, weil unsere Bewegungsmöglichkeiten und unsere Kontaktmöglich­keiten eingeschränkt sind?

Ich will damit diese Maßnahmen nicht schönreden – sie belasten die meisten von uns sehr. Aber vielleicht fällt es uns leichter, sie einzuhalten und in unser Leben zu integrieren, wenn wir erkennen, dass sie nicht nur etwas einschränken, sondern auch etwas eröffnen könnten.

 

Wie macht es Sacharja, um seine Zeitgenossen zu motivieren?

Er malt ihnen eine Hoffnung aus, er verkündet ihnen eine Vision.

Er verkündet den Zurückgekehrten, dass Gott sich von neuem seiner Stadt zuwendet. Weiterhin wohne er auf dem Berg Zion und weiterhin wolle er sich kümmern um die Bewohner seiner Tochter, der Stadt Jerusalem.

Und er verkündet, dass einmal der Messias auf einem Esel, genauer gesagt auf einem Eseljungen einziehen wird. Der Messias, der werde dann Gerechtigkeit und Frieden schaffen, den alle Menschen erkennen und der für die gesamte Menschheit gelte. Und dieser Friede werde von Jerusalem ausgehen!

Schon allein deshalb müsse diese Stadt wieder aufgebaut werden!

 

Tatsächlich ist Sacharja und sind weitere Propheten dieser Zeit erfolgreich: Die Stadt wird wieder aufgebaut, nach einiger Zeit sogar der Tempel. Und neues Leben und neue Hoffnung bringt die Stadt und das Volk Israel, das sich nun Juden nennt, zu neuer Blüte.

 

Die junge Christenheit erkannte natürlich im Einzug Jesu in Jerusalem 400 Jahre später die Erfüllung dieser Weissagung.

Dementsprechend wurde diese Weissagung in den Evangelien bei der Beschreibung des Einzugs Jesu in Jerusalem mit integriert. Und umgekehrt können wir davon ausgehen, dass Jesus selbst diese Weissagung kannte und ganz bewusst auf einem Eseljungen einzog, um die Erfüllung dieser Weissagung der Jerusalemer Bevölkerung vor Augen zu führen!

 

Und tatsächlich: Für einen kurzen Moment erkennen die Massen, wer da kommt, wer Jesus ist. Und sie jubeln ihm zu! Sie vergessen für einen Moment die Herrschaft und die Unterdrückung durch die Römer und träumen vom Friedensreich des Messias! Sie haben eine Vision und die lässt sie jubeln!

 

Welche Motivation brauchen wir, um diese schwierige Krise mit ihrer Ansteckungsgefahr einerseits und den harten Maßnahmen dagegen andererseits durchzu­halten?

Ein Weihnachtsfest im Kreis der Familie und der Verwandten wird uns versprochen… Reicht das zur Motivation? Was ist mit denen, die keine Familie haben oder die jedes Jahr erleben, dass diese weihnachtliche Gemeinschaft so unnatürlich ist, dass sie regelmäßig in ein Fiasko ausartet?

Wenn Weihnachten nur die Erfüllung dieses sozialen Gemeinschaftsaspekts bedeutet – so schön der sein kann – dann wird Weihnachten als Motivation zum Durchhalten wohl nicht ausreichen.

 

Wenn Weihnachten aber mehr sein sollte, wenn Weihnachten in uns selbst Friede und Freude auslösen kann, wenn wir den Friedensfürst in der Krippe entdecken können, wenn auch uns die alte Geschichte vom Engel und den Hirten unsere Angst ein wenig nehmen kann wie dem kleinen Jungen, dann kann uns Weihnachten viel geben.

Der Advent ist dann so etwas wie das Bewusstwerden und das Sich eingestehen der eigenen Ängste und Sorgen. Und die können wir mitnehmen auf den Weg zur Krippe mitnehmen, um sie dort abzulegen. Dann werden wir mit einer neuen Freude und einer Hoffnung von der Krippe wieder ins Leben gehen.

 

Amen.

 

 

 

Es gilt das gesprochene Wort!