Predigt zur Christvesper an Heilig Abend von Pfr. Reichenbacher

Liebe Gemeinde!

 

„Es ist ein Ros´ entsprungen“ hat uns der Chor gesungen. Dieses Lied gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Weihnachtsliedern überhaupt!

Das ist eigentlich verwunderlich – enthält es doch manche Worte und Gedanken, die nur für Eingeweihte verständlich sind:

Es geht schon los in der ersten Strophe mit diesem seltsamen Ros, der nichts zu tun hat mit einer Rose und auch nichts mit einem Ross, das entsprungen sein könnte… Dann ist noch von einem Jesse die Rede, den auch kaum jemand kennt.

In der zweiten Strophe wird es dann etwas einfacher: Das Blümelein, das offenbar Maria gebracht hatm ist leichter als Bild für die Geburt des Jesuskindes zu verstehen und wird dann ja auch so aufgelöst.

In der dritten Strophe macht nun der Dichter etwas, was jedem Pfarrer in seiner Ausbildung dringend nahegelegt wird, es nicht zu tun: Es kommt dogmatische Rede in Reinkultur! Der zwar richtige, aber schon sehr steile dogmatische Lehrsatz über die sog. Naturen Jesu wird da hineinverwoben: Jesus war wahrer Mensch und wahrer Gott! Er stirbt ohne Sünde und kann deshalb alle Menschen von ihrer Sünde befreien und ihnen das ewige Leben schenken.

 

Wie kommt der unbekannte Lieddichter der ersten beiden Strophen auf diese Idee, in solchen rätselhaften Bildern über die Geburt Jesu zu dichten?

Er kennt offensichtlich den Predigttext für diesen Hl. Abend aus dem Buch des Propheten Jesaja. Dieser Jesaja ist der Lieblingsprophet der Christen, vor allem auch schon der ganz frühen Christen. Denn bei ihm finden sich viele Worte, die Christen auf Jesus beziehen können.

Juden sehen das natürlich anders, aber Christen sagen, dass dieser Jesaja die Fähigkeit hatte, Dinge in der Zukunft zu weissagen, die mit Jesus Christus in Erfüllung gingen.

Dieser Jesaja selbst lebte im 8. Jahrhundert vor Christus und gerade an Weihnachten wird er besonders gerne rezitiert und gepredigt.

 

Jesaja 11,1-10

1Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit

und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. 6Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. 8Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. 9Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt. 10Und es wird geschehen zu der Zeit, dass das Reis aus der Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Heiden fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein.

 

Was für großartige Worte! Welch wunderbare Weissagung für unsere von Ungerechtigkeit und Krieg, Terror und Angst geplagte Welt, die wir noch dazu immer mehr zerstören durch umweltschädliches Verhalten!

6Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.

 

Ein Heile-Welt-Idyll wird da ausgebreitet, oder?

Nein, genau genommen nicht. Sondern es wird geträumt von der Überwindung unserer Realität.

Der Prophet hat eine Vision von einem Leben, in dem die Gegebenheiten unserer Welt nicht mehr gelten, sondern der Vergangenheit angehören!

 

Ein verrückter Traum. Ein Traum für Spinner?

Ja und Nein.

Ja, es ist ein Traum für Verrückte. Nein, das ist keine Spinnerei. Denn: Was heißt denn verrückt? Verrückt heißt zuerst einmal, dass etwas, was scheinbar unabänderlich ist, weggerückt wird. Ein Verrückter lebt in seiner eigenen Welt und rückt sie sich so zurecht, wie er sie haben möchte. Fast beneidenswert.

 

Jesaja ist kein Spinner, aber vielleicht ein bisschen verrückt. Er beschreibt eine neue Welt Gottes, in der bestimmte Dinge verrückt sein werden: Die ewige Unterdrückung des Schwachen durch den Starken wird es nicht mehr geben. Die Aufteilung in Täter und Opfer wird es nicht mehr geben – nicht einmal mehr in der Tierwelt. Es wird keinen Terror mehr geben und keine Angst vor Terror und keine Gewaltverbrechen und kein sinnloses Töten. Auch Krankheiten wird es nicht mehr geben, die ganze Völker in Atem halten und viele Todesopfer fordern. Es wird endlich das sein, was wir so ersehnen, aber so schwer selbst machen können: Es wir Frieden sein – ein umfassender Frieden, den die Juden mit Shalom und die Araber mit Salam bezeichnen.

Dieser Shalom umfasst Gerechtigkeit, Wohlergehen, Reichtum, Sicherheit, Gesundheit – eigentlich alles, was das Leben fördert.

Es ist das messianische Friedensreich, das hier beschrieben wird: Wenn der Messias, der Retter der Welt kommt, dann wird es eintreten.

 

Das ist Jesajas Traum – und wenigstens einmal im Jahr, an Weihnachten, können wir ihn mitträumen. Einmal sich nicht von den Nachrichten runterziehen lassen, auch nicht von den neuesten Corona-Zahlen, einmal nicht das Gefühl haben, in der Welt wird  immer noch alles schlimmer, einmal daran glauben, dass alles gut werden wird, so wie es Eltern zu ihren Kindern sagen, wenn diese traurig sind.

 

Tja, so schön kann Träumen sein! Aber macht es Sinn? Und was ist, wenn wir aufwachen nach dem Träumen?

Zurückgefragt: Wie ist es denn, wenn wir morgens aufwachen und uns tatsächlich an einen schönen Traum erinnern? Tut das nicht der Seele gut? Ja, das tut gut, auch wenn die Realität dann ganz anders ausschaut. Und so ein schöner Traum kann einen durch den ganzen Tag tragen!

 

Jesajas Botschaft ist: Träumt vom Friedensreich Gottes, denn es wird einer kommen, der solche Träume wahrmachen kann!

Auf ihm wird der Geist des Herrn ruhen – der Geist, der alles möglich machen kann, alles, was wir als gut und richtig ansehen, vor allem aber das, was Gott als gut und richtig ansieht: Er bringt Verstand und Weisheit, Rat und Stärke, Erkenntnis und Ehrfurcht vor Gott.

 

Als Christen können wir an Weihnachten sagen: Ja, dieser Erwartete ist gekommen. Damals an Weihnachten Bethlehem. Wir kennen den, auf dem dieser Geist ruht: Es ist Jesus Christus!

Und er kommt noch heute – überall, wo heute und in den nächsten Tagen Weihnachten gefeiert wird. Denn wie sagt der Engel: Euch ist heute ein Kind geboren! Heute, auch hier und jetzt in Reutti!

 

Lasst uns also diesen Traum träumen - von der besseren Welt, von einer verrückten, neuen Welt Gottes, einer Welt ohne Corona-Ängste, ohne weiter voranschreitende Klimaerwärmung und mit mehr Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.

Und je intensiver wir ihn träumen, desto mehr wird er wahr werden, Stück für Stück.

 

An Weihnachten ist der Traum des Jesaja schon bis zu einem gewissen Grad wahrgeworden.

Denn tatsächlich ist der neugeborene Gottessohn ein Ros aus der Wurzel Jesse, um es in der Sprache des Liedes zu sagen. Jesus ist ein Reis, ein Spross aus der Wurzel Isais, des Vaters von König David. Und Jesus wird in der Geburtsstadt Davids Bethlehem geboren – genau wie Jesaja weissagte.

 

Für die frühen Christen war es sehr wichtig, belegen zu können, dass Jesus sozusagen aus „gutem Hause“ war – ja aus dem angesehensten von ganz Israel: aus dem Hause von König David.

Das ist wie bei uns auch heute: Wenn das eigene Kind den Freund oder die Freundin vorstellt, dann wollen die Eltern auch wissen, aus welchem Hause er oder sie stammt… und wenn man sich mit den Eltern dann auch noch gut versteht – umso besser.

 

Jesus, das Gotteskind – und zugleich das Menschenkind aus gutem Hause.

Er macht den Traum des Jesaja wahr und lädt uns ein, den Traum von einer besseren Welt weiterzuträumen und Stück für Stück wahr werden zu lassen – und nicht nur an Weihnachten.

Es hilft uns, daran zu glauben, dass Gott diese Welt noch nicht aufgegeben hat – trotz Corona und allem anderen Schlimmen, was wir immer wieder in der Ferne oder ganz nah miterleben müssen.

 

Und ist es nicht so:

Wenn wir auf das Schöne in unserer Welt, das Gute, das wir selbst erleben durften in der Vergangenheit zurückblicken und auch auf das, was uns selbst Gutes gelungen ist – dann können wir sie aufblitzen sehen, diese neue Welt Gottes:

Ein solcher Strahl dieses Shalom kann sein, wenn ein Miteinander von Menschen, die sich eigentlich nicht mögen, gelingt; wenn Verständnis und Hilfe, wo wir sie nicht erwartet hätten, geschieht, wenn wir Menschlichkeit erleben an Orten und zu Zeiten, wo wir sie nicht für möglich gehalten hätten.

 

Weihnachten bedeutet nicht nur, beim Anblick des Gotteskindes den Traum von der besseren Welt weiterzuträumen, sondern auch das zu entdecken, was dieses Kind bereits ermöglicht hat – die Träume, die bereits wahrgeworden sind.

Und dankbar innehalten im Blick auf das Kind in der Krippe. Denn von dort kommt die Veränderung und das Neue, dort ist er, der Reis bzw. der Ros, der  entsprungen ist, um Veränderungen zum Guten ermöglichen.

 

Amen.

 

 

Die Aufzeichnung des Gottesdienstes inklusive dieser Predigt finden Sie auf der Seite Weihnachten.