Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist (Lukas 6,36)
Liebe Gemeinde,
was ist Barmherzigkeit?
Abgesehen von kirchlichen Kreisen könnte man den Begriff wohl eher auf einer Liste für ausgestorbene Wörter vermuten.
Ist Barmherzigkeit ‚out‘, nicht mehr modern?
Und tatsächlich, als ich im Lexikon nachschlug stand da: Barmherzigkeit kommt aus dem Christentum und bedeutet die Weise der Liebe, in der sich jemand dem Elend eines anderen zuwendet, ohne Rücksicht auf sich selber zu nehmen.
Nach der Botschaft des NT hat Gott sich aus Barmherzigkeit dem Menschen zugewendet, obwohl dieser, im Aufstand gegen Gottes Willen, sein will wie Gott.
Die Folge dieser Zuwendung bedeutet für den Menschen die Freiheit von Angst vor dem Tod und vor den Menschen, sowie die Hoffnung auf ein Reich des Friedens nach dem Tod. Für dieses soll sich der Christ schon in seinem irdischen Leben einsetzen!
Wer Liebe und Barmherzigkeit empfangen hat, kann selber seinem Nächsten als Liebender begegnen.
Matthäus beschreibt in seinem Evangelium die Sieben Werke der Barmherzigkeit im Rahmen der Rede Jesu über das Jüngste Gericht.
Es sind:
Das Speisen des Hungrigen,
das Tränken des Durstigen,
das Bekleiden des Nackten,
das Beherbergen des Fremden,
das Trösten Gefangener,
der Besuch des Kranken,
und das Begraben der Toten.
Was Barmherzigkeit und barmherziges Handeln also für uns bedeutet, welchen Auftrag wir haben, das wird klar beschrieben!
Viele weitere Geschichten und Gleichnisse in der Bibel sind diesem Thema Barmherzigkeit gewidmet.
Und in der Kunst ist die Barmherzigkeit seit dem Mittelalter das häufigste Thema!
Auch in unserer Kirche findet sich eine Wandmalerei zu dem wahrscheinlich bekanntesten Beispiel der Barmherzigkeit in der Bibel, dem Gleichnis vom ‚Barmherzigen Samariter’.
Weil man schlecht definieren kann, was Barmherzigkeit eigentlich ist, muss man es am Beispiel lernen.
Zur Erinnerung: Ein Reisender wird überfallen, ausgeraubt und halbtot auf der Straße liegen gelassen.
Von den ersten beiden, die vorbeikommen, hätte man sofortige Hilfe erwarten können. Sie sind aus demselben Volk, haben berufsmäßig mit Religion zu tun und sollten sich von daher eigentlich moralisch richtig verhalten können. Aber, weit gefehlt. Sie gehen achtlos vorüber.
Der dritte, ein Mann aus dem eher verachteten Volk der Samariter tut das Richtige. Das beginnt schon damit, dass er nicht wegsieht!
Das zweite ist, dass er die Not des am Boden liegenden Mannes wahrnimmt, an sich herankommen lässt und das Leid nachempfinden kann. Er hat MITleid.
Er überlegt nicht, ob der andere vielleicht ein schlechter Mensch ist und seine Hilfe gar nicht verdient hat. Er kennt ihn nicht und weiß nicht, ob das Ganze für ihn sogar negative Auswirkungen haben könnte. Nein, er sieht ihn, empfindet mit ihm, erkennt die Not und hilft ihm. Er tut, was ‚notwendig’ ist, im wahrsten Sinne des Wortes - er wendet die Not des Nächsten zum Besseren.
In der Bibel finden sich viele Beispiele der Barmherzigkeit. Sehr markant ist das beim Evangelisten Lukas. Er erzählt in seinem Evangelium die meisten Heilungsgeschichten. Wie kein anderer sonst bindet er die Geschichte von Jesus in das Weltgeschehen ein. Dabei richtet er seinen Blick nicht auf die Mächtigen, sondern auf die kleinen Leute, die Schwachen, Leidenden und Verachteten: auf Kranke, Hirten, Huren, Witwen, Waisen, auf die „Zöllner und Sünder“. Ihr Leid, aber auch ihre Verlorenheit geht Jesus ans Herz und treibt ihn an Orte, die alle anderen meiden. Er ist da, wo die Starken den von Gott gesandten Messias niemals suchen würden.
Das begann schon bei seiner Geburt in extremer Einfachheit, zwischen den Niedrigsten und Verachtetsten der damaligen Zeit.
Dazu eine Auslegung einer Grafik zur Jahreslosung:
Einfaches, derbes Sackleinen als Untergrund wählt die Künstlerin Stefanie Bahlinger. In der Mitte liegt ein kleines, von warmem Rot umgebenes Kind - ein Hinweis auf die ursprüngliche Bedeutung von „Barmherzigkeit“: Gebärmutter. Der Mutterleib also ist der Ursprung aller Barmherzigkeit.
Doch in der Geburt dieses kleinen Kindes, erweist sich eine noch viel größere Barmherzigkeit! Gott selbst kommt zur Welt - in die Niederungen seiner geliebten Schöpfung; um uns ganz nahe zu sein. Dies wird angedeutet durch einen Ausschnitt des Erdenrunds dahinter.
Genau dieses Motiv des heruntergekommenen Gottes wählt die Künstlerin zur Illustration seiner „Ureigenschaft“ - seiner Barmherzigkeit. In Jesus wird sie greifbar, macht Gott sich selbst angreifbar weil menschlich. So ist das von warmem Gelbgold umstrahlte menschliche und göttliche Kind schon gezeichnet durch das Kreuz.
Beides zieht sich durch sein Leben. Sowohl seine Barmherzigkeit, die sich in der Heilung von Armen und Ausgestoßenen zeigt, als auch seine Angreifbarkeit, die schließlich in Gefangennahme und Tod am Kreuz endet.
Das kleine Kind Jesus trägt dieses Kreuz, bereits durch sein Leben, das Kreuz, durch das er unsere Sünden auf sich genommen hat. Wer Jesus begegnet, erfährt Heil und Rettung, denn das Heilen der körperlichen Verletztheit durch Jesus geht immer einher mit dem Heilen der menschlichen Seele.
Damals und auch heute im Hier und Jetzt. Gott liebt und erbarmt sich seiner Menschenkinder. Er sucht Verlorene und feiert Freudenfeste für Gefundene.
Daran sollen wir uns ein Beispiel nehmen.
„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“
Egal wie andere leben: „Seid barmherzig!“ Nicht am Verhalten anderer sollen wir uns orientieren. Auch nicht daran, was für uns selbst dabei herausspringt. Weder Verletztheit noch irgendetwas, das wir anderen nachtragen sollen uns daran hindern, selbst barmherzig zu sein.
Allein Gottes leidenschaftliche Barmherzigkeit, die er uns durch seine Gnade und Treue „unverdient“ immer wieder erfahren lässt, soll unsere Motivation sein.
Ist es nicht anmaßend, diesem hohen Anspruch Jesu genügen zu wollen? Mit seiner Hingabe können wir uns niemals messen. Aber genau aus diesem Grund kam er herab – als kleines Kind, das ruhig und geborgen da liegt und doch schon von einer unglaublichen Dynamik umgeben ist.
Kubistische Flächen in warmen Farben breiten sich aus und bilden einen schützenden Raum. Mit den Rot- und Orangetönen nimmt die Künstlerin die bereits über dem Kind lodernde Flamme des Heiligen Geistes auf. Der bewegt seit Pfingsten Menschen über Generationen hinweg, Gottes Reich zu bauen und sein heilsames Evangelium in Wort und Tat zu verkündigen. Warmweiß leuchtet dieses Reich schon im Hintergrund auf.
Umrahmt wird die Szene durch eine gotische Tür oder ein Fenster aus weißen Linien. Auf der linken Seite scheint das Fenster verletzt, - auf der rechten nahezu unversehrt, - in der Mitte heil zu sein.
Ein Symbol dafür, dass das Kreuz auf dem Körper des Kindes nicht nur auf sein Leiden und Sterben hinweist, sondern dass man in diesem vom Kreuz gezeichneten Kind auch einen Brotlaib erkennen kann. Dies erinnert an sein Wort: Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. (Johannes 6, 51).
In der Grafik steckt keine sichtbare Handlung, sie strahlt vielmehr Ruhe aus, aber auch die unzerstörbare, weltverändernde Kraft der Barmherzigkeit Gottes. An dieser Barmherzigkeit sollen auch seine Kinder teilhaben und sich dadurch verändern.
Sie verändert auch mich und hilft mir dabei, auch barmherzig zu sein, mit anderen und mit mir selbst.
Nichts muss ich geben, was mir nicht selbst geschenkt ist: „Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles .. und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben“ (Lukas 6, 38), verspricht Jesus direkt nach seinem Aufruf:
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Woran liegt es, dass das für viele von uns so schwierig ist?
Vielleicht liegt es daran, dass viele Menschen Barmherzigkeit nie bewusst wahrgenommen haben und scheinbar nie erlebt haben. Aber können wir es denn wissen, ob sie in diesem Leben tatsächlich nie vorhanden war, ob nicht Menschen barmherzig zu einem waren, ohne dass man es wahrgenommen hat? Ganz zu schweigen von Gott.
Schwierig wird es auch, wenn sich einer als jemanden sieht, der alles kann und alles hat, dem niemand etwas anhaben kann, dem niemand etwas schuldig ist und der auch selbst niemandem etwas schuldet, der kann mit der Barmherzigkeit Gottes gar nichts anfangen.
Wer sich selbst aber als jemand erkennt, der es bitter nötig hat, dass man ihm vergibt und ihm immer wieder aufhilft in seiner Not, wer sich als arm vor Gott erkennt, dem kann die Barmherzigkeit Gottes helfen.
Und wer erkannt hat, dass er Gottes Güte und Vergebung nötig hat, der kann auch mit anderen barmherzig umgehen.
Manchmal ist es wohl auch nur Gedankenlosigkeit oder vielleicht auch Überforderung, wenn wir Not wahrnehmen und nicht helfen.
Wir sollten es wenigstens versuchen. Auch hier können wir auf Gottes Hilfe bauen. Auf jeden Fall aber, können wir daran arbeiten im Denken und im Reden barmherzig zu sein, Fehler des anderen auszuhalten. Das wäre schon ein guter Schritt in die richtige Richtung.
Wie gut, dass auch ER uns, mit unseren Zweifeln und unserer Unvollkommenheit aushält. Er war schon immer auf der Seite der Schwachen und Unvollkommenen und jeder einzelne, der zu ihm findet ist ihm wichtig, wie dem Vater der heimkehrende Sohn.
Denn eines ist gewiss:
Gottes immerwährende Güte und Barmherzigkeit, mit der er uns immer wieder annehmen wird.
Unser Vater im Himmel wird schon seinen Teil dazugeben, was uns nicht gelingt.
Denn wie der Säugling im Bild zu unserer Jahreslosung sind auch wir umgeben und gehalten von Gott.
Amen.