Sehnsucht Weihnachten

Predigt zu Jer 23,5-8, 1. Advent 2021 von Pfarrer Stefan Reichenbacher

 

Liebe Gemeinde!

Wir Menschen sind Sehnsuchtswesen.
Wussten Sie das?
Wir leben von und mit Sehnsüchten.
Wir sehnen uns nach bestimmten Dingen, nach bestimmten Zuständen, nach bestimmten Menschen – und das treibt uns an. Das motiviert uns, das macht uns kreativ, das gibt uns Kraft und Mut, lässt uns Probleme lösen und Anstrengungen erdulden.
Ja, dieses Sehnen ist eine Form von Sucht, aber keine negative Sucht, sondern es ist ein Sehnen, das nach Erfüllung sucht und dafür eben verschiedenst, auch mühevolle Wege geht.

Die Sehnsucht also, die entfaltet eine nahezu unerschöpfliche Energie und Kreativität in uns, die uns Menschen zu den erstaunlichsten Zielen und Glücksmomenten führt.
Fehlt nun diese Sehnsucht, dann wird es mühsam. Wenn ich nur die Anstrengungen, die Arbeit, den Schmerz, die Probleme auf dem Weg zum Ziel sehe, dann sinkt meine Motivation. Dann verliere ich mein Ziel aus den Augen.

Berühmt ist ein Satz aus einem Roman des französischen Schriftstellers Antoine de St. Exupéry:
Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Menschen, die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.
Wenn diese Sehnsucht da ist bei den Handwerkern – dann werden sie sich begeistert ans Werk machen voller Vorfreude auf die erste Fahrt mit dem neuen Schiff hinein in die endlose Weite des Meeres. Und jede Mühe wird es ihnen wert sein.
Auf die Sehnsucht nach dem zu erreichenden Ziel also kommt es an!

Hören wir den Predigttext aus dem Buch des Propheten Jeremia:

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will.
Der soll
ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.
Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen.
Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird:

»Der Herr ist unsere Gerechtigkeit«.

Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, 8sondern: »So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. (Jeremia 23,5-8)

Der Prophet Jeremia wirkte in der Zeit des mächtigen babylonischen Königs Nebukadnezar. Zweimal eroberte er Jerusalem: Das erste Mal nahm er nur den König und die obersten Staatsbeamten gefangen und führte sie in die Verbannung nach Babylon. Er setzt einen Vasallenkönig ein, der ihm Tribut zahlen musste. Dieser aber versuchte bald, mit Hilfe der Ägypter die Oberhoheit Nebukadnezars abzuschütteln. Der Plan misslang und Nebukadnezar kam zum zweiten Mal. Diesmal zerstörte er Stadt und Tempel und führt die gesamte Elite Jerusalems in die Verbannung.

Jeremia hatte Nebukadnezar von Anfang an als Werkzeug Gottes gesehen und die Verbannung als gerechte Strafe Gottes für das Fehlverhalten Israels, insbesondere für die Sünden seiner Mächtigen und Reichen: Arme wurden benachteiligt, Witwen nicht versorgt, das Recht nur im Sinne der Mächtigen ausgelegt usw….

Die Worte Jeremias aus unserem Predigttext stammen nun aus der Zeit zwischen den beiden Eroberungen.
Das Überraschende ist:
Einerseits kämpft Jeremia dafür, sich Nebukadnezar unterzuordnen und das Strafgericht Gottes anzuerkennen, andererseits verheißt er aber den Verbannten der ersten Deportation eine Rückkehr in ihr eigenes Land. Dabei bedient er sich der Motivation durch Sehnsucht:

Jeremia will den Deportierten Kraft geben, durchzuhalten, indem er in ihnen die Sehnsucht nach der Freude bei ihrer zukünftigen Rückkehr weckt. Und er tut dies, indem er an die alles überstrahlende Heilstat Gottes in der frühen Geschichte des Volkes Israel erinnert: an den Auszug aus Ägypten, die Rettung am Schilfmeer und den Durchzug durch die Wüste unter Führung des Mose. So wunderbar, so bedeutend und herrlich wie diese Wundertaten Gottes damals wird einmal auch die Rückkehr der Verbannten aus Babylon sein, verspricht Jeremia!

Tatsächlich gelang es Jeremia, aber auch anderen Propheten nach ihm wie z.B. dem sog. Deuterojesaja, diese Sehnsucht nach der Rückkehr in die alte Heimat zu fördern und zu bewahren. Das ist erstaunlich. Denn das Exil dauerte 58 Jahre bzw. 48 Jahre für die, die nach der 2. Eroberung nachkamen. Nach so langer Zeit waren die, die sich an Jerusalem und den Tempel erinnern konnten, längst verstorben. Aber die Sehnsucht danach vererbten sie auf ihre Kinder und Enkel. Die durften dann im Jahr 539 v. Chr. nach Jerusalem zurückkehren. Die Sehnsucht nach der Heimat ihrer Eltern und Großeltern hatte sie durchhalten lassen.

Wir hier und heute leben Gott sei Dank nicht in der Verbannung. Unsere heiligen Räume, unsere Kirchen wurden nicht zerstört wie damals der Tempel und unser Land lebt nun schon seit mehr als 75 Jahren in Frieden.Aber ein Virus setzt uns zu und schränkt unsere Lebensmöglichkeiten in einer früher nicht vorstellbaren Weise ein. Wir sind in eine Art innere Verbannung gezwungen und können uns nicht so bewegen und so miteinander treffen wie wir wollen.

Welche Sehnsucht hilft uns durchzuhalten?
Die Sehnsucht nach der sog. Normalität?

Schwierig.

Nach Normalität hat man normalerweise keine Sehnsucht. Sehnsucht hat man nach besonderen Dingen, nach außergewöhnlichen Zielen. Das Normale hingegen ist selbstverständlich.
Es sei denn, es ist eben nicht mehr selbstverständlich; es sei denn, wir entdecken im Normalen das Besondere und erleben, dass das Selbstverständliche eben nicht mehr selbstverständlich ist.

Ein kranker Mensch z.B., der über Wochen ans Bett gefesselt ist, wird sich danach sehnen, einfach aufstehen und ein paar Schritte gehen zu können - etwas, das vor der Krankheit so normal war, dass er darüber nicht nachgedacht hätte.
Noch schlimmer: Wer z.B. einen schweren Schlaganfall hatte, arbeitet manchmal über Wochen und Monate an dem Ziel, wieder „normal“ reden und alles selbständig machen zu können und muss dafür üben und üben.
Das Normale kann also durchaus erstrebenswert sein – eben dann, wenn es in weite Ferne gerückt ist. Dann können wir eine Sehnsucht danach entwickeln.

Wenn wir nun noch an die Menschen denken, die von Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt unterstützt werden müssen – da ist diese Sehnsucht nach Normalität riesengroß: Leben ohne Angst vor Gewalt, ohne Hunger und mit Chancen auf Bildung und Arbeit – das sollte normal sein, aber ist es häufig nicht.

Heute ist der 1. Advent.
Die Zeit des Wartens und Vorbereitens auf Weihnachten ist eingeläutet. Normalerweise tun wir uns als Erwachsene schwer mit der Vorfreude auf Weihnachten. Denn uns fällt dann immer gleich ein, was bis Weihnachten noch alles fertig werden muss – sowohl auf der Arbeit und im Geschäft als auch zuhause und im Privaten. Stress, Hektik, Geschenke finden usw.
Doch in diesem Jahr kommt etwas hinzu, das wir letztes Jahr bitter lernen mussten: Dass ein normales Weihnachtsfest auch mit Einkaufsstress im Vorfeld keineswegs selbstverständlich ist.

So traurig dieser Gedanke ist, so sehr kann er uns vielleicht aber auch helfen.
Die Sehnsucht nach einem Weihnachtsfest, das wir möglichst „normal“ feiern können, wächst zusehends. Das „normale“ Weihnachten mit seinen gewohnten Gottesdiensten, Feiern und Besuchen wird ungewiss. Die Sehnsucht danach wird deshalb umso größer.
Dem Weihnachtsfest selbst könnte das vielleicht guttun: In welcher Weise und Form wir es nun feiern werden – wir werden es auf jeden Fall sehr bewusst und sehr dankbar feiern – und sicher bewusster und dankbarer als in früheren Jahren!

Dazu kommt: Wir leben jetzt auf Weihnachten hin mit einer gewissen Unsicherheit im Vorfeld, in der Adventszeit. Doch damit kommen wir viel näher an das ursprüngliche Weihnachtsfest heran.
Die Hirten wussten nicht, was sie erwartet und ob dieses Kind in der Krippe ihre Sehnsüchte nach einem Heiland und Retter der Welt erfüllen würde, als sie sich aufmachten, das verheißene Kind zu suchen.
Die Weisen aus dem Morgenland folgten dem Stern mit der Hoffnung, einen neuen bedeutenden König begrüßen zu können. Sie waren sicher völlig verunsichert, als sie statt eines Palasts ein einfaches Haus und einen Stall mit dem Kind vorfanden.

Trotzdem: Die Sehnsüchte der Hirten wie die der Könige wurden erfüllt vom Heiland, vom König, der in die Welt kam. Aber sie wurde anders erfüllt als gedacht und als ersehnt.
Und so wird es auch für uns in diesem Jahr sein, vermute ich: Wir werden Weihnachten feiern, wir werden sicher erleben, dass auch einige unserer Sehnsüchte, die wir mit Weihnachten verbinden, erfüllt werden, aber vielleicht ganz anders als erwartet.

Amen.